Unauslöschliche Erinnerungen: Die glücklichen Jahre von „Charlie Hebdo“
Der Mann ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Mit gebeugtem Rücken schleppt er sich die Treppe hoch, seine Umrisse sind mit weißen Linien aufs schwarze Papier gezeichnet. Als er die Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“ betritt, werden die Bilder heller. Er jedoch bleibt im Dunklen, die emsigen Menschen um ihn herum nehmen ihn kaum wahr. Nach und nach verlassen sie den Raum, die Tür fällt zu, er sitzt wieder im Dunklen.
Mit dieser Szene, die sich als Albtraum des Ich-Erzählers herausstellt, beginnt „Wir waren Charlie“, die Ende 2019 auf Deutsch veröffentlichte autobiografische Comicerzählung von Rénald Luzier, besser bekannt als Luz (aus dem Französischen von Vincent Julien Piot, Tobias Müller und Karola Bartsch, Handlettering von Olav Korth und Céline Merrien, Reprodukt, 320 S., 29 Euro).
Der heute 52-Jährige war einer der Mitarbeiter der politischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, die das islamistische Attentat auf die Redaktion am 7. Januar 2015 nur durch einen Zufall überlebten: Er hatte an dem Tag Geburtstag und kam später als sonst zur Arbeit.
Von Luz stammt das zur Ikone gewordene Titelbild der ersten Ausgabe nach dem Attentat. Es zeigt unter der Überschrift „Tout est pardonné“ (Alles ist vergeben) einen weinenden Mohammed vor grünem Hintergrund, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ hält.
Zwölf Menschenleben forderte der von zwei Brüdern verübte Anschlag. Wie er diesen Tag und die Zeit unmittelbar danach erlebte, hat Luz bereits kurz nach dem 7. Januar in seinem Buch „Katharsis“ in expressiven Zeichnungen festgehalten. Darin ließ er die Leser vor allem an seinem Trauma und dessen Verarbeitung teilhaben.
Auch seine Kollegin Catherine Meurisse, die am 7. Januar ebenfalls zu spät in die Redaktion kam, hat ihre Erfahrungen in einem gezeichneten Buch verarbeitet („Die Leichtigkeit“). Nun setzt Luz seinen Kollegen und ihrer Arbeit in den zwei Jahrzehnten vor dem Attentat ein zeichnerisches Denkmal.
In Frankreich verehrt, in Deutschland kaum bekannt
Für deutsche Leser bietet dieses Buch einige Nachhilfestunden in Sachen französischer Politik und Kulturgeschichte. Denn viele Menschen hierzulande dürften von „Charlie Hebdo“ primär durch die viel diskutierten islamkritischen Karikaturen und die mit deren Veröffentlichung begründeten Angriffe von Islamisten auf die Redaktion gehört haben.
So gab es 2011 einen Brandanschlag auf die Redaktion, nachdem eine Ausgabe mit einer Mohammed-Karikatur von Luz auf dem Titel erschienen war. Jenseits derartiger Vorfälle haben in Frankreich von einem großen Publikum verehrte Zeichner wie Jean Cabut alias Cabu, Stéphane Charbonnier alias Charb oder Bernard Verlhac alias Tignous hierzulande kaum Bekanntheit erlangt – bis vor knapp fünf Jahren die Nachricht vom mörderischen Anschlag die Runde machte.
Auch die immense Bedeutung, die „Charlie Hebdo“ in den 90er und 00er Jahren als linkes, offensiv säkulares Medium für die politische Kultur Frankreichs hatte, ist hierzulande vielen Menschen nicht bewusst.
Luz reiht in seinem Buch ein gutes Dutzend Episoden aneinander, dramaturgisch zusammengehalten durch das Gerüst einer schlaflosen Nacht, in der er seinen Erinnerungen freien Lauf lässt. Schlaglichtartig wird so erhellt, was das Besondere an „Charlie Hebdo“ und seinen Machern war.
Es beginnt 1991 in Paris mit dem ersten Zusammentreffen des 21-jährigen Luz, den als Landei die Großstadt anfangs überfordert, mit dem 34 Jahre älteren Cabu, der sich bereits in den Jahrzehnten zuvor als politischer Zeichner und auch durch seine Fernsehauftritte einen Namen gemacht hatte.
Gegen soziale Missstände, Rassismus und Bigotterie
Nach einer Episode bei der kurzlebigen Satirezeitschrift „La Grosse Bertha“ findet sich Luz im Juli 1992 unter den Neu-Gründungsmitgliedern von „Charlie Hebdo“, einer Satirezeitschrift, die von 1970 bis 1981 erschien und dann 1992 als wöchentliche Publikation neu gestartet wurde.
Gemeinsam bauen Charb, Cabu und ihre Mitstreiter sowie Luz als Neuzugang das Magazin zu einer politischen und kulturellen Instanz aus, kämpfen mit ihren Karikaturen und gezeichneten Reportagen für Meinungsfreiheit und einen kritischen Blick auf soziale Missstände vor allem in Frankreich sowie gegen Rassismus und religiöse Bigotterie.
Luz beschreibt all das in so lebendigen Worten und Bildern, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, bei den Redaktionssitzungen in den von Zigarettenrauch gefüllten Räumen dabeizusitzen. Man meint, das Wackeln des großen, von allen Redaktionsmitgliedern geteilten Zeichentisches zu spüren, wenn mal wieder jemand zu kräftig mit dem Radiergummi an seinem Werk feilt.
Man erfährt, wie nahe sich viele der Charlie-Hebdo-Mitarbeiter auch persönlich waren, wie sie die gleichen Ideale, die gleiche Begeisterung für die Zeichenkunst und den gleichen Humor teilten. Und man sieht den Stolz des jungen Zeichners Luz, der von Cabu und den anderen von Anfang an mit offenen Armen aufgenommen wird, als er kurz danach bei einer Demonstration gegen verschärfte polizeiliche Kontrollen von Einwanderern zum ersten Mal eines seiner Bilder auf einem großen Demonstranten-Schild wiederentdeckt.
Scherze auf Kosten von Behinderten oder Dunkelhäutigen
Dennoch spart Luz auch die weniger glorreichen Aspekte nicht aus: Der Ton in den Sitzungen der Redaktion, die mit wenigen Ausnahmen wie Catherine Meurisse nur aus Männern besteht, ist oft von Chauvi-Sprüchen und spätpubertären Witzchen geprägt, die Entstehungsprozesse vieler Werke sind chaotisch, und mancher Scherz auf Kosten von Behinderten oder dunkelhäutigen Menschen, in den sich Charlie-Hebdo-Männer hineinsteigern, ist statt witzig nur zynisch und abwertend.
Zugleich führt Luz an zahlreichen Beispielen auch aus seinem eigenen Werk vor, wie wichtig die Zeitschrift als Forum für einen kritisch-humorvollen Diskurs über aktuelle Themen war. Und das nicht nur in Form von Karikaturen und satirischen Texten, sondern auch durch gezeichnete Reportagen, die von einem aufklärerischen, journalistischen Impetus getrieben waren.
So berichtete Luz mit seinem Zeichenblock aus den von der Politik ignorierten Pariser Banlieus, aus dem Wahlkampf der konservativen Chiraquisten oder auch mal aus einem Fetisch- Club. „Manchmal hat so eine Reportage fast nichts gekostet“, erinnert er sich in einer Szene. „Ein Fahrschein, und schon begann das Abenteuer. Mit einem Métro-Ticket nahm man den Leser mit in unbekannte Gefilde.“
Es wird diskutiert, an Zeichnungen gefeilt, gelacht
Was im Buch dagegen kein einziges Mal explizit thematisiert wird, ist das Attentat, mit dem die glücklichen Jahre von „Charlie Hebdo“ endeten. Auch die Zeit danach, in der Luz vorübergehend Chefredakteur wurde, bis er sich im Laufe des Jahres 2015 ganz aus dem Projekt zurückzog, findet keinen direkten Niederschlag.
Als wollte Luz den Attentätern die Regie über das „Charlie“-Narrativ wieder aus der Hand nehmen. Und ein bisschen wohl auch denjenigen Politikern, die sich nach dem Anschlag unter der Parole „Wir sind Charlie“ versammelten, was manche Weggefährten von Luz und Co. als Vereinnahmung empfanden.
Stattdessen erinnert er sich und seine Leser daran, dass in den Räumen, in denen später die tödlichen Kugeln flogen, viele Jahre vor allem diskutiert, an Zeichnungen gefeilt und sehr viel gelacht wurde.
Rauchschwaden und eine Druckmaschine strukturieren die Seiten
„Wir waren Charlie“ ist darüberhinaus auch visuell faszinierend, denn Luz findet für jede der unterschiedlichen Erzählebenen einen eigenen Strich, von schemenhaften Skizzen über Aquarellbilder bis hin zu leicht karikiert überzeichneten, halb realistischen Bildern, die den Redaktionsalltag und seine Recherchetouren dokumentieren.
Dabei gelingen ihm immer wieder auch grafische originelle Kompositionen, wenn zum Beispiel die Rauchschwaden im Redaktionszimmer oder die Teile einer riesigen Druckmaschine als strukturierende Elemente eingesetzt werden.
Zeichnerisch herausragend sind auch jene Szenen, in denen Luz in seiner Fantasie zusammen mit Cabu, der für ihn ein Spiritus rector war, durch seine Zeichnungen wandert und sich an gemeinsame Erlebnisse erinnert.
Bild für Bild lässt Luz seine Freunde und Kollegen vor den Augen der Leser wieder lebendig werden. Und trägt damit dazu bei, deren Lebenswerk zu dem zu machen, was der französische Originaltitel des Buches, „Indélébiles“, aussagt: unauslöschlich.
(Redaktioneller Hinweis: Dieser Artikel wurde am 7. Januar 2020 erstmals im Tagesspiegel veröffentlicht und nun aus aktuellem Anlass leicht überarbeitet neu publiziert.)