Berliner Bilderwelten
Ein zurückgezogen lebender Künstler ermuntert einen Berufsverbrecher dazu, sich seinen schmerzhaften Erinnerungen zu stellen. Eine aufbrausende Aktivistin, eine konservative Dorfgemeinschaft und ein Monster treffen in einem modernen Märchen aufeinander. Ein indisch-pakistanisches Paar erlebt nach der Auswanderung nach Deutschland die schwierige Balance zwischen Integration und Bewahrung der eigenen Kultur.
Diese und andere Geschichten erzählen die Gewinner:innen der diesjährigen Comic-Stipendien des Berliner Senats, des mit insgesamt 63.000 Euro höchstdotierten deutschen Förderprogramms für diese Kunstform.
Ab diesem Sonnabend sind die Arbeiten von Everett S. Glenn, dem Gewinner des Jahresstipendiums, sowie der vier weiteren mit kürzeren Stipendien Prämierten Sarnath Banerjee, Gregor Dashuber, Julia Beutling und Kai Pfeiffer im Museum für Kommunikation in Berlin zu sehen.
Die bis Ende Oktober laufende Ausstellung (Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen, Di 9-12 Uhr, Mi-Fr 9-17 Uhr) wurde vom Deutschen Comicverein kuratiert, auf dessen Initiative die seit 2017 vergebenen Stipendien zurückgehen.
Am selben Ort findet am Sonnabend und Sonntag zum zwölften Mal das Berliner Independent-Festival „ComicInvasion“ statt. Dort gibt es Lesungen, Podiumsgespräche, Buchvorstellungen, Signierstunden und eine „Artist Alley“ mit Dutzenden Künstler:innen und Verlagspräsentationen. Mehr dazu hier.
Wir stellen im Folgenden die fünf von der Senatskulturverwaltung geförderten Projekte vor. Die fünf Künstler:innen sprechen darüber auch auf einem Panel am Sonnabend um 12 Uhr auf der Comicinvasion.
Everett S. Glenn: „The Nix: A Sort Of Memoir“
Der aus den USA stammende und in Berlin lebende Künstler Everett S. Glenn hat sich unter anderem als Cartoonzeichner für den „New Yorker“ einen Namen gemacht. Für sein Comic-Projekt „The Nix: A Sort Of Memoir“ hat er das zwölfmonatige Arbeitsstipendium des Senats in Höhe von 24.000 Euro bekommen.
Die Hauptfigur seines von literarischen Bezüge und Zitaten aus der Kunst- und Filmgeschichte durchzogenen Comics sind der fiktive Künstler Wolfgang Aberhart und der Berufskiller E.S. Grimm. Letzterer ist nicht nur ein Verbrecher, sondern auch ein Künstler und wir wird von Aberhart ermuntert, „die Unordnung des Lebens zu akzeptieren, seine schmerzhaften Erinnerungen aufzudecken und seine Erfahrungen zu akzeptieren“, wie Glenn die Handlung umreißt. „The Nix: A Sort Of Memoir“ sei „eine pseudo-autobiografische Geschichte für reife Leser“.
E.S Grimm hat äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zeichner, der die Figur bereits 2020 in seiner Comicreihe „Unsmooth“ eingeführt hat, die einen ironisch-sarkastischen Blick auf die Kunstwelt wirft. Dort heißt die Figur allerdings noch E.S. Glenn und gerät nach einigen Misserfolgen als Maler auf die schiefe Bahn.
Glenns Bilder nehmen deutlich auf die frankobelgische Comictradition Bezug: Er arbeitet mit semi-realistischen Zeichnungen in einem klar konturierten, an die Ligne Claire des Tim-und-Struppi-Zeichners Hergé erinnernden Retro-Look. Die Kolorierung in hellen, fast leuchtenden Farben ist flächig gehalten, manche Szenen wirken beinahe surrealistisch.
Sarnath Banerjee: Geschichten von Migration und Integration
Sarnath Banerjee, geboren 1972 in Kalkutta, ist ein indischer Comic-Autor, Illustrator und Verleger, der seit einigen Jahren mit seiner Familie in Berlin lebt. 2004 veröffentlichte er das Buch „Corridor“, welches als eine der ersten indischen Graphic Novels gilt und autobiografische Elemente mit einer fiktiven Erzählung verbindet.
Er hat einer der drei viermonatigen und jeweils mit 8000 Euro dotierten für die Arbeit an einer episodischen grafischen Erzählung bekommen, die anhand mehrerer Figuren Ge-schichten von Migration und Integration vermitteln soll, wie er zusammenfasst: „Die Geschichte beginnt mit Brighu – einem wandernden Beobachter und unzuverlässigen Erzähler. Als rastloser Erforscher des Gewöhnlichen gleicht er einem Detektiv, der durch die Berlin irrt, ohne einen Fall zu lösen.“
Parallel dazu soll die Geschichte der Auflösung einer indisch-pakistanischen Ehe erzählt: „Die Beziehung erzählt werden, die jahrelang dem giftigen Nationalismus zweier verfeindeter Länder standhielt, findet in einem fremden Land ihr Ende. Nach drei Kriegen, endloser Bürokratie und einer erzwungenen Ausreise nach Deutschland. Von einer sehr spezifischen Existenz, die von ihrer eigenen Modernität durchdrungen ist, zu einem Leben mit Einwanderern und der Notwendigkeit, sich zu integrieren. Es fällt dem Paar schwer, in einem von Identität geprägten Ökosystem zu überleben, und es erlebt eine kulturelle Krise der Nicht-Zugehörigkeit.“
Zeichnerisch arbeitet Banerjee in einem realistischen, teils skizzenhaft wirkenden Stil, bei dem Bilder und Texte meistens nebeneinander stehen. Manche Sequenzen sind in Schwarz-Weiß gehalten, andere dezent koloriert.
Gregor Dashuber: „King“
Gregor Dashuber arbeitet als Regisseur von Animationsfilmen, Storyboard-Künstler und Illustrator. Er hat ein Stipendium für seine Arbeit an der Comic-Adaption von John Bergers Roman „King“ bekommen, in dem ein Hund als Erzähler vom Leben einer Gruppe Menschen am Rande der Gesellschaft auf einem Schrottplatz erzählt.
„Meine Interpretation verlegt die Handlung nach Berlin und verweist auf die Bewohner der ehemaligen Cuvrybrache in Kreuzberg“, fasst Dashuber sein Projekt zusammen. „Dort entstand 2012 ein Hüttendorf mit bis zu 200 Einwohnern, das als „Kreuzberger Favela“ stigmatisiert und nach einem Brand 2014 geräumt wurde. Meine persönlichen Eindrücke und Skizzen aus dieser Zeit verbinden sich mit der Prämisse des Romans. Die Cuvrybrache wurde damals ein Symbol des Protests gegen zunehmende Verdrängung in der Stadt.“
Sein Comic stelle die grundlegende Frage: Wem gehört die Stadt? Ein anderer Aspekt der Erzählung sei Obdachlosigkeit im höheren Alter: „Es geht nicht darum, den Obdachlosen die Würde zurückzugeben, denn das halte ich nicht für möglich. Es geht darum eine aufrichtige Geschichte von Menschen zu erzählen, damit wir ihre Würde wieder erkennen.“
Dashubers Bilder, in denen es meistens Nacht ist, haben durch einen rauen Strich und die großzügige Verwendung von Schwarz mit vereinzelten Farbsprengseln eine sehr düstere Anmutung. Sie verbinden halbrealistische Figurenzeichnungen mit expressiven Kulissen, in denen vieles nur angedeutet ist. Im Exposé stechen neben ausdrucksstarken Porträts der menschlichen Hauptfiguren vor allem einige fast surrealistisch-alptraumhaft wirkende Szenen mit einem Rudel Hunde hervor, das sich auf eine Gruppe Polizisten stürzt.
Julia Beutling: „Being Monsters“
Die Illustratorin und Comiczeichnerin Julia Beutling hat ein weiteres viermonatiges Stipendium für die Arbeit an ihrem Webcomic „Being Monsters“ bekommen. Der ist, wie sie schreibt, „ein Jetztzeit-Märchen für Erwachsene, ein Drama und eine Detektivgeschichte. Er ist außerdem eine moderne Adaption des Märchens von der Schönen und dem Tier, in dessen Zentrum eine aufbrausende Aktivistin, eine konservative Dorfgemeinschaft und natürlich ein Monster stehen.“
„Being Monsters“ ist als Langformat-Webcomic auf mehrere Jahren angelegt und wird seit Oktober 2021 veröffentlicht. Bislang können dort zwei Kapitel gelesen werden.
Die menschlichen Hauptfiguren in „Being Monsters“ sind in einem klaren, cartoonigen Stil gezeichnet. Im Kontrast dazu sind die nach und nach auftauchenden Monster in einem expressiveren, wilderen Strich gehalten. Ins Auge fallen auch die ausgefeilten Kulissen: Opulente, märchenhafte Landschaftsbilder wechseln sich mit naturalistisch wirkenden Stadtszenen ab, phantastische und realistische Passagen gehen nahtlos ineinander über.
Kai Pfeiffer: „Donner corps à la ville – der Stadt Gestalt geben“
Der Zeichner Kai Pfeifferdürfte Comiclesenden durch mehrere Veröffentlichungen bekannt sein, zu denen unter anderem die zusammen mit der Belgierin Dominique Goblet geschaffene Bilderzählung „Bei Gefallen auch mehr“ und die zusammen mit Tim Dinter geschaffene Reihe „Der Flaneur“ zählen.
Er hat in diesem Jahr das mit 15.000 Euro dotierte sechsmonatige Aufenthaltsstipendium in der Künstlerwohnung des Senats in der Cité Internationale des Arts in Paris 2022/2023 bekommen.
Stilistisch zeichnet das Werk von Kai Pfeiffer eine große Vielfalt und Experimentierfreude aus, wie auch das oben zu sehende Beispiel aus seinem Langzeitprojekt „Maisons hantées“ zeigt, dass er im Juni während einer Residenz in Toulouse und dann auch in Paris weiterführen will.
Dort will er ein ortsbezogenes, dokumentarische Comicprojekt verfolgen, das er so umschreibt: „Donner corps à la ville – der Stadt Gestalt geben, bewusst, oder unfreiwillig. Für einen dokumentarischen Comic-Bericht will ich zwei Pariser Begegnungen weiterverfolgen: Mit einem Fotografen und Aktivisten für Obdachlose, und einer professionelle Dominatrice und BDSM-Performancekünstlerin. Ein verflochtenes Dyptichon paralleler Welten – Menschen als Spielball urbaner Härte; und als Citoyens du plaisir, souveräne Spieler mit subtilen Erfahrungen von Dominanz und Unterwerfung.“