Die unglaubliche Saison von Bayer Leverkusen: Aus „Vizekusen“ wird wohl „Meisterkusen“
Das Leverkusener Trauma hat einen Namen, die Bayer AG hat ihn sich 2010 sogar als Marke schützen lassen. Es nennt sich „Vizekusen“ und entstand um die Jahrtausendwende, als Bayer 04 Leverkusen am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 1999/2000 in Unterhaching die sicher geglaubte Meisterschaft noch vergeigte. Und 2002 gar drei Titelchancen vergab, in Pokal, Champions League und eben Meisterschaft.
Der spanische Baske Xabi Alonso (42), seit 2022 Trainer in Leverkusen, hat sich offensichtlich mit den tristen Kapiteln der Vereinsgeschichte befasst. Jedenfalls ist er auffällig vorsichtig, wenn es darum geht, über die Aussichten seiner Mannschaft zu sprechen. Seine Bayer-Elf ist zwar wettbewerbsübergreifend in 36 Spielen ungeschlagen, führt die Bundesligatabelle nach dem 25. Spieltag mit zehn Punkten Vorsprung auf die Bayern an.
Als er am vergangenen Samstag nach dem 2:0 gegen Wolfsburg gefragt wurde, wann er denn über den Titel sprechen wolle, antwortete er: „Erst im April.“ Der Wolfsburger Kollege Niko Kovac hielt sich nicht zurück: „Sollten alle gesund bleiben, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Bayern Leverkusen noch einholen. Leverkusen spielt so gut.“
Im DFB-Pokal sind die Aussichten der Werkself ebenfalls rosig. Bayer steht als einziger Bundesligist im Halbfinale und trifft am 3. April auf den Zweitligisten Fortuna Düsseldorf. Im zweiten Duell spielt Saarbrücken (3. Liga) gegen Kaiserslautern (2. Liga). Und dann ist da noch die Europa League, in der Leverkusen am Donnerstag im Achtelfinal-Rückspiel gegen Qarabag Agdam aus Aserbaidschan den Einzug in die nächste Runde perfekt machen kann.
Der Gewinn der beiden nationalen Titel, das Double, scheint für Leverkusen auf jeden Fall machbar zu sein. Was könnte bei dieser Ausgangslage noch schiefgehen? Bayer 04 hat einen tiefen Kader und kann den Belastungen der drei Wettbewerbe mit Rotation begegnen. Hier gibt es allerdings Grenzen.
Es ist noch nichts gewonnen.
Granit Xhaka, Mittelfeldspieler Bayer Leverkusen.
Beim Hinspiel gegen Agdam in der vergangenen Woche in Baku sah man, dass es in dem eingespielten Kollektiv Profis gibt, ohne die die Bayer-Mannschaft nicht dieselbe ist. In der ersten Halbzeit verzichtete Alonso dort auf seine beiden Regisseure Granit Xhaka (31) und Florian Wirtz (20), und Bayer geriet prompt mit 0:2 in Rückstand. Es fehlten dem Leverkusener Spiel Kontrolle und Balance.
Der Coach erkannte seinen Fehler und schickte beide Schlüsselspieler in der zweiten Halbzeit auf den Platz. Sofort wurde es besser, Bayer schoss zwei Tore zum 2:2 und rettete seine Serie. „Es war wichtig, auch in einem schlechten Moment zu zeigen, dass wir es besser können“, sagte Alonso später.
Niemand weiß jedoch, was geschieht, wenn Leverkusen tatsächlich wieder einmal verlieren sollte. Wird die Mannschaft nervenstark bleiben, es abhaken und nach vorne schauen? Oder beginnen die Profis womöglich zu zweifeln? Xhaka, der Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft, hat in dieser Hinsicht bei seinem vorigen Verein, dem FC Arsenal in der Premier League, schlechte Erfahrungen gemacht. In der vergangenen Spielzeit hatte Arsenal die Liga lange angeführt, die Meisterschaft jedoch auf der Zielgeraden noch an Manchester City verloren.
Das sei furchtbar gewesen, er wolle so etwas nicht noch einmal erleben, sagte Xhaka in den vergangenen Wochen ein paar Mal. Und er wird nicht müde, seine Mitspieler vor Nachlässigkeiten zu warnen. Nichts sei selbstverständlich, meinte er: „Wir wissen, dass die kommenden Wochen brutal wichtig sein werden und müssen weiter so arbeiten wie jetzt.“ Im Hinblick auf die deutsche Meisterschaft fügte er hinzu: „Es ist noch nichts gewonnen, es sind noch neun Spiele.“ Die nächste Ligapartie folgt am Sonntag, wenn Leverkusen beim SC Freiburg antritt – und weitere Punkte gegen das Trauma sammeln will. Den Begriff „Meisterkusen“ hat die Bayer AG übrigens ebenfalls schützen lassen.