Proustbetrieb: Albertines dunkelblauer Fortuny-Mantel
Eine Fahrt nach Versailles ist einer der letzten Ausflüge des Erzählers der „Recherche“ mit Albertine, bevor diese von einer Gefangenen zu einer Entflohenen wird. Fliehenden wird. „Ich kann ja mitkommen, wie ich bin, wenn wir unterwegs nicht aus dem Wagen steigen“, sagt Albertine auf seine Einladung hin. Sie sitzt da noch in ihrem Zimmer, bekleidet nur mit einem Morgenrock von Fortuny.
Albertine kann sich nicht entscheiden, was für einen Fortuny-Mantel sie schnell über ihren Morgenrock werfen soll, es wird schließlich ein „wundervoller dunkelblauer“. Dieser korrespondiert im folgenden mit der Bläue des Himmels, „einem strahlenden, etwas blassen Blau“ – und mit einer Erinnerung an die Großmutter, „die so gern in dieser Bläue den Kirchturm von Saint-Hilaire sich aufrecken sah.“
Das Kleid von Fortuny kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor.
Der Erzähler der „Recherche“
Doch ist der Fortuny-Mantel, überhaupt Fortuny, ein Leitmotiv der „Recherche“, „er spielt bald eine sinnliche, bald eine poetische, bald eine schmerzliche Rolle“, so Proust in einem Brief. Schon früh wird der junge Marcel in der „Recherche“ auf die Roben des 1871 in Granada geborenen, in Paris und in Venedig lebenden Modeschöpfers und Malers Mariano Fortuny de Madrazo aufmerksam.
Als der Erzähler Elstir in Balbec besucht, zusammen mit Albertine, erklärt dieser ihm, dass Kleidung für einen Maler genauso wichtig sei wie Landschaften oder Architektur, zum Beispiel „die prächtigen Gewänder der Zeitgenossinnen Carpacchios oder Tizians“.
Venedig ist dann das Stichwort, die Sehnsucht danach, der Wunsch auch Albertines, so bald wie möglich dorthin zu fahren. „Sie werden vielleicht schon bald (…) die herrlichen Stoffe betrachten können, die man da unten getragen hat.“, so Elstir zu Albertine. Sie bekommt dann von Marcel Fortuny-Kleider geschenkt – gerade weil diese für ihn wegen ihrer venezianischen Designs so unmittelbar mit Venedig verbunden sind: „Das Kleid von Fortuny (…) kam mir wie ein lockender Schatten jenes unsichtbaren Venedig vor.“
Der dunkelblaue Mantel Albertines auf dieser beider letzten Spazierfahrt wurde inspiriert von einem Mantel, der sich auf einem in der Galleria dell’ Academia hängenden Werk Carpaccios findet, dem „Patriarchen von Grado/ Das Wunder der Heiligen Kreuzreliquie.“ Einer der Männer auf dem Bild, ein Calzabruder, trägt diesen blauen Mantel.
Der Erzähler sieht das Bild, der Anblick versetzt ihm einen „leichten Stich“, ein „Gefühl von Verlangen und Wehmut“. Er erkennt aber auch Fortunys Vorlage: „Aus diesem Bild von Carpaccio also hatte der geniale Sohn Venedigs ihn entnommen, und von den Achseln dieses Calzabruders hatte er ihn losgelöst, um ihn auf die so vieler Pariserinnern zu werfen.