Alles auf den Tisch gelegt
Christin Nichols spielt am Mittwoch im Rahmen des Pop-Kultur um 23.20 Uhr im Frannz Club. Weitere Informationen zum Festival unter www.pop-kultur.berlin
Um sich über das Umfallen und Wiederaufrichten zu unterhalten, gibt es wohl keinen besseren Ort als eine Kegelbahn. Christin Nichols hat für das Treffen die älteste ihrer Art in Berlin gewählt, die „Bornholmer Hütte“ in Prenzlauer Berg. Drinnen Kronleuchter und Stuck. Draußen nippt die Musikerin und Schauspielerin in der lauen Sommerbrise am „Schultheiss“ und schnippt eine Packung Zigaretten herüber. „Es gibt ein englisches Sprichwort: Wenn etwas auf den Tisch liegt, ist es für alle da“. Umgestürzte Kegel müsse man hier noch selbst aufstellen, erklärt die 35-Jährige. Das ist dann schon fast zu viel der Metaphorik für die ersten Minuten eines Gesprächs, in dem es um das Aufstehen und Weitermachen gehen wird.
Egal ob Musiker:in oder Musikjournalist:in – der Name Christin Nichols zaubert in diesen Tagen ein seliges Lächeln auf die Lippen von Berliner Popfans. Weil sie eine unheimlich einnehmende Persönlichkeit ist. Und weil sie zu Jahresbeginn das hochgelobte Solodebüt „I’m Fine“ veröffentlichte. 12 tolle Songs zwischen Indie, Synth-Pop und Post- Punk. Vollkommen zurecht landete es auf der Longlist für den „Preis der Popkultur“. An diesem Mittwoch eröffnet Christin Nichols und ihre Band das Festival Pop-Kultur in Berlin.
1986 wird sie im ostwestfälischen Bünde geboren, einst Zentrum der europäischen Zigarrenindustrie. Die Mutter kommt aus einem deutsch-polnischen Elternhaus, der Vater aus England. Eine trilinguale Kindheit. Doch aller Sprachkompetenz zum Trotz fällt es ihr schwer, sich mitzuteilen. „Sehr schüchtern“, sei sie als Kind gewesen, sagt Nichols, die bis heute nicht nur in ihren Texten unvermittelt vom Deutschen ins Englische wechselt.
Wo die Angst ist, da geht’s lang
Zwar entstehen schon im Kinderzimmer erste Songs, doch das größte Hobby ist ihr Bestattungsinstitut für Kleintiere. Ob Marienkäfer oder Hamster: aus Streichholzschachteln und Moosgummi bastelt sie filigrane Miniatur-Grabsteine. Wie seltsam, sagt Nichols heute, vor so vielem habe sie Angst gehabt – nur nicht vor dem Tod.
Ballettunterricht mit vier Jahren. Zirkuskurse mit sechs. Klavierstunden mit acht. Trotzdem empfinde sie die Bühne bis heute nicht als natürliches Habitat. „Für mich ist das immer auch eine Konfrontationstherapie.“ Wo die Angst ist, da geht’s lang – seit ihre erste Schauspiel-Coachin sie auffordert, mit einem Kissen auf etwas einschlagen.
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Mit zehn Jahren ziehen die Eltern nach Mallorca. El Arenal. Da, wo sich deutsche Sauftouristen volllaufen lassen. Erste Schritte als Statistin in der Proll- Abenteuerkomödie „Ballermann 6“. Mit Tic-Tac-Toe-Shirt und Adidas-Jogginghose. Man mag es kaum glauben, wenn die charismatische Künstlerin heute sagt, sie sei „der traurigste Teenager der Welt“ gewesen.
Viele Bachblütentropfen braucht es, bis sich Nichols an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin wiederfindet. Fünf Jahre ist sie am Berliner Ensemble. Erste Rollen im Tatort und in Kinofilmen. Doch Schauspiel allein reicht ihr nicht mehr.
„Die ganzen doofen, kleinen Gefühle“
Zusammen mit dem Bassisten René Riewer gründet sie das exzentrische Elektro-Punk-Duo Prada Meinhoff. Parolenhafte Polittexte, eingängige Beats. Irgendwo zwischen Exzess und Rebellion. Auf den ersten Auftritt folgt direkt die Einladung zu einer Tour. Dann klopft ein Label an und plötzlich stehen sie mit DAF und Peaches auf der Bühne. Alles ging so schnell. Und war schnell auch wieder auserzählt. Unterschiedliche Vorstellungen. „Wir haben das erwachsen beendet“, sagt Nichols.
In der Pandemie findet sie endlich Zeit für ihre eigenen musikalischen Ideen. Die Welt ist in Schrecken versetzt, aber im Privaten habe sie „apokalyptisch-magische Momente“ erlebt. Die Stimmen aus dem Außen verstummten. Endlich wieder in sich reinhorchen dürfen. Auch wenn sich da „die ganzen doofen, kleinen Gefühle“ melden, die man so lange überhört hat.
Der letzte Impuls ist dann eine Nachricht in ihrem Postfach: „Sie haben im Lotto gewonnen!“ Sind alle Sorgen vorbei? Nein, der Gewinnbetrag beträgt 7,04 Euro. „Fick dich, Schicksal!“, denkt sich Nichols. „Dann mache ich wenigstens einen Song daraus.“ Als sie zwölf beisammen hat, nimmt sie „I’m Fine“ auf.
Die vermaledeite Sprachlosigkeit beenden
Die politischen Momente von Prada Meinhoff sind darauf noch anwesend, angereichert um eine starke persönliche Komponente. „Achtsamkeit mit gestrecktem Mittelfinger“ fasst das Berliner Stadtmagazin „Tip“ das Album treffend zusammen. In „Today I choose violence“ thematisiert Nichols über einem wummernden Bass den Alltagssexismus, den sie in ihrer eigenen Bubble erlebt. Sätze wie: „Denk mal drüber nach, was du für Signale sendest, wenn du dich so anziehst“ oder „Du musst an deinem Körper arbeiten, besonders an deinen Beinen“. Wenn man kommuniziert, was nicht geht, ist schon viel gewonnen, sagt Nichols. „Self Care ist nicht nur Matcha-Tee und Meditation, sondern Grenzen setzen“.
Psychische Selbstfürsorge und Gesellschaftskritik schließen sich nicht aus. Ihre jüngst veröffentlichte Single „Citalopram“ ist eine Hymne auf ihre ambivalenten Erfahrungen mit dem Antidepressivum, zugleich eine Anklage der mangelhaften Gesundheitsversorgung psychisch Kranker und der Leistungsgesellschaft.
Die vermaledeite Sprachlosigkeit beenden. Die eigene und die da draußen. Wenn man ein Konzert spiele, sei man mal kurz nicht alleine. Vor der Bühne, aber auch darauf. Die Zigarettenpackung ist an diesem Abend längst leer, aber wenn Christin Nichols etwas auf den Tisch liegt, ist es für alle da.