Warum Rückzüge meistens hässlich enden – nicht nur beim Militär

Kabul ist schon einmal Schauplatz eines überstürzten Rückzugs geworden. 1842 war es eine britische Expeditionsarmee, die von Indien aufgebrochen war, um den Herrscher Afghanistans, Emir Dost Mohammed, vom Thron zu stürzen. Auf ihrer Flucht nach Dschalalabad wurde sie vollkommen aufgerieben. Nur Oberstabsarzt William Brydon und ein paar indische Infanteristen konnten sich retten.

Es war nach Ansicht von Zeitgenossen eine der „schändlichsten und demütigsten Episoden“ der britischen Militärgeschichte, wie der Tross aus Kolonialtruppen mit ihren Familien, Bediensteten und Helfern im Winter den Khaiba-Pass zu überqueren versuchte, ausgehungert, erfrierend und fortgesetzt angegriffen von einheimischen Stämmen.

Das Desaster blieb auch Theodor Fontane in seiner Zeit als London-Korrespondent nicht verborgen. So verfasste er ein mahnendes Gedicht über das koloniale Abenteuer: „Wir waren dreizehntausend Mann,/ Von Kabul unser Zug begann,/ Soldaten, Führer, Weib und Kind,/ Erstarrt, erschlagen, verraten sind.“

Ein Rückzug verläuft selten anders als brutal und kläglich. Das gilt weit übers Militärische hinaus: Nicht nur, dass man sich schneller davonmachen muss, als der Gegner hinter einem her ist, schon eine Meinung zu widerrufen, auf der man zuvor beharrt hat, fällt schwer.

Und was ist erst mit einem Posten, den aufzugeben zur persönlichen Krise wird, weil er einem viel bedeutet? Wer beherrscht schon die Kunst, sich mit Stil zu verabschieden – wenn er oder sie es muss?

Sich in die Büsche zu schlagen ist gängig geworden

Die letzten Tage der Kanzlerin zeigen, wie schwer sogar ihr die geordnete Übergabe fällt. Zu lange hat sich das von Angela Merkel regierte Land an einen Regierungsstil gewöhnt, der immer schon etwas von einem Rückzug an sich hatte. Heikle Fragen wurden so lange vertagt, bis sie nicht mehr von ihr selbst beantwortet werden mussten. So können ihre Erben nun allesamt nicht vom Nimbus der Überwindung profitieren, der sie für Höheres prädestinierte. Denn es gibt nichts zu überwinden. In diesem Wahlkampf geht es deshalb statt um Positionen vor allem um Fehler, die die Selbstdarstellung trüben.

Aus dem Rückraum zu regieren, verschleiert den eigenen Standpunkt, um ihn nicht räumen zu müssen. Das Ergebnis ist nach jahrzehntelanger Praxis die viel beklagte „organisierte Verantwortungslosigkeit“, die einen politischen Prozess immer von der eigenen Angreifbarkeit her betrachtet, statt als Nutzen für alle. Das ist ein Strukturproblem von Demokratien, aber verstärkt wird es in den populistischen Echokammern digitaler Foren, wo aus Nichtigkeiten Shitstorms entstehen.

Man könnte auch sagen: Sich in die Büsche zu schlagen ist so gängig geworden, dass der Unterschied zwischen krassen politischen Fehlleistungen wie die der Kabinettsmitglieder Andreas Scheuer (CSU) und Heiko Maas (SPD) und einer unglücklichen Formulierung zugunsten von ersteren verschwimmt.

Der Rückzug der Weltmacht wiederholt einen alten Fehler

Für eine Gesellschaft, die tagtäglich mit Rückzugsgefechten dieser Art zu tun hat, ist es ein Schock, wenn im Chaos des Machtverlusts mal wirklich alles den Bach runtergeht wie am Flughafen von Kabul. Im Moment der Entblößung gelingt nicht nur die große Geste nicht, sondern meistens nicht mal das Notwendigste.

Und eine humanitäre Geste sollte es sein, all jene „Kräfte“ aus Afghanistan mitzunehmen, die lange für die westlichen Truppen gearbeitet haben. So sehr die Erwartungen an den Afghanistan-Einsatz insgesamt zu hoch gesteckt waren, so sehr droht der Westen es nun mit seiner Aufarbeitung zu übertreiben. Der Verrat an den Einheimischen ist bitter, aber ist er auch ein Grund, sich gleich ganz aus der Weltpolitik zurückzuziehen?

Nach dem Debakel der US-Truppen 1993 in der Schlacht von Mogadischu wurde ein einfacher Satz zur Leitlinie des politischen Handelns der Clinton-Regierung: „Don’t cross the Mogadishu Line“. Humanitäre Interventionen waren von da an verpönt. Mit dem Effekt, dass die Weltgemeinschaft in den 90er Jahren mehr Bürgerkriege, Hungersnöte und Genozide erlebte als je zuvor.

Die UN war dem Elend in vielen Armutsregionen nicht gewachsen, in denen die Macht mit Drogen und Waffen (Liberia, Ruanda, Kongo) neu verteilt wurde. Der abermalige Rückzug der Weltmacht aus einem für sie unattraktiven Kriegsgebiet wiederholt den alten Fehler: Auch jetzt ist er das Gegenteil von einem Friedensschluss.

Hat der Verrat also schon im Versprechen selbst gesteckt, aus Afghanistan ein modernes Land machen zu wollen, wo doch nur Kabul und einige andere Städte des Landes sich je für westliche Moden und Lebensweisen geöffnet hatten? Oder soll westliches Militär dauerhaft über die Brennpunkte der Welt verteilt werden, um zivilisatorische Fortschritte abzusichern, statt das Feld Diktatoren und autokratischen Regimen zu überlassen?

Das ewige Afghanistan-Drama

Wenn man Probleme in einer globalisierten Welt nicht dort löst, wo sie entstehen, kommen sie früher oder später zu einem selbst. Das ist eine Lehre des ewigen Afghanistan-Dramas, das 1839 mit dem Einmarsch einer 4500-köpfigen Armee begann. Das von Fontane ausgemalte „Trauerspiel“ des ersten Anglo-Afghanischen Krieges, stellt darin nur eine kleine blutige Episode dar, die sogar hätte vermieden werden können, wie MIlitärhistoriker meinen, wenn nicht mit William Elphinstone der denkbar ungeeignetste Befehlshaber im denkbar ungünstigsten Augenblick das Sagen gehabt hätte. Der Waterloo-Veteran war mit einer solchen Zahl körperlicher Gebrechen belastet, dass er unfähig war, eine Entscheidung zu fällen.

Großbritannien selbst stand zu der Zeit in der Blüte seine imperialen Macht. Die industrielle Produktivität entsprach 1860 fast der Hälfte des Weltpotenzials, Besitzungen und Absatzmärkte erstreckten sich über die ganze Erde. Abgesichert wurden sie allerdings nur von einer relativ kleinen Armee, die durch ausländische Kontingente aufgestockt wurde. Der ökonomische Aufschwung sollte nicht durch Militärausgaben belastet werden.

Wie die westlichen Mächte jetzt glaubten auch die Briten vor 160 Jahren, den Fortschritt an den Hindukusch zu tragen. Darüberhinaus herrschten dieselben Sparzwänge. Um die Ausgaben für die Ostindienkompanie zu reduzieren, halbierte man die finanziellen Zuwendungen an die Ghilzai. Der Stamm kontrollierte im Osten des Landes die kürzeste Verbindung nach Indien. Die Reaktion folgte prompt.

Ghilzai überfielen die nächstbeste Karawane aus Indien, um ihre Ansprüche zu unterstreichen. In Kabul spielte man die Bedrohung herunter. Der Stamm suche „einfach nur Streit“, schrieb der Britische Gesandte, und werde „eine ordentliche Tracht Prügel beziehen“. Es lief genau anders herum.

Auf Fairness darf man nicht hoffen

Mit dem Angriff der Ghilzai auf eine britische Brigade, die ihrer Ablösung aus Indien entgegen marschierte, brach im November 1841 der Aufstand auch in Kabul los. Und es rächte sich, dass die Briten ein Lager verteidigen mussten, dessen Umfang zu groß für ihre Truppenstärke war, überdies ungünstig gelegen und keine eigenen Vorräte besaß.

Den Entschluss zum Rückzug fasste Elphinstone, nachdem ihm freies Geleit durch den Sohn des abgesetzten Emirs, Akbar Khan, zugesichert worden war. Doch so weit reichte dessen Einfluss auch nicht, dass die zahlreichen lokalen Stämme zurückgehalten worden wären. Immer wenn sich Elphinstone und Khan auf Verhandlungen mit den Lokalgrößen einließen, sammelten sich im Hintergrund die Kämpfer, griffen das abziehende Heer unerbittlich an.

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Auf Fairness darf man im Moment der Schwäche nicht hoffen, lautet die Botschaft, die auch Fontane anklingen ließ: „Die hören sollen, sie hören nicht mehr/ Vernichtet ist das ganze Heer.“

Als die US-Regierung von Donald Trump sich in Katar mit den Taliban ins Benehmen zu setzen begann, wurde die afghanische Regierung nicht eingebunden. Von da an sei die Zivilgesellschaft des Landes preisgegeben gewesen, hat Navid Kermani in der „FAZ“ geschrieben. Kein Soldat der afghanischen Streitkräfte, der seine eigene Regierung in Doha vom Verhandlungstisch ausgeschlossen sah, würde sein Leben für eine Sache riskieren, die keinen Rückhalt mehr bekam.

Jeder will dazugehören

Wie verlässt man die Bühne mit Stil? Hat es Franziska Giffey besser gemacht als Andrea Nahles? Die eine verschaffte sich Luft, indem sie ein Amt aufgab, um ein anderes zu bekommen. Die andere verschwand von der Bildfläche.

In Frankfurt am Main gibt es in direkter Nachbarschaft zu den Türmen der Deutschen Bank ein flaches Gebäude, das „Sterbehaus“ genannt wird. Hier verbringen frühere Vorstände und Spitzenmanager des Geldinstituts ihre Tage, nachdem sie, meist mit schweren Vorwürfen beladen, aus der Führungsetage entsorgt worden sind. Sie haben nichts mehr zu tun, außer ihren Rückzug zu verwalten.

Obwohl diese wohlhabenden Leute viel zu geben hätten, reden sie nicht über ihre Fehler, die zum Niedergang der Bank und zur Finanzkrise 2008 geführt haben, und übereinander reden sie schon gar nicht. Sie würden aus einem „Orden“ ausgestoßen, wie es in einer „Zeit“-Reportage von Marc Brost und Andres Veiel hieß. Einem Orden der Verräter. „Man weiß“, wird ein Ehemaliger zitiert, „wenn man in den Vorstand eintritt, kommt man nicht mehr unschuldig heraus.“ Im Sterbehaus ist der Rückzug deshalb an ein Schweigekartell gebunden. Denn jeder will dazugehören, wenn man auch nicht mehr weiß, zu was.