Unter apokalyptischen Reitern : Deutschland, ein gespaltenes Land?

Kaum ein Tag vergeht, an dem die deutschen Medien nicht vor einer zunehmenden Spaltung des Landes warnen: Die Mittelschicht drohe abzusinken. Der Zusammenhalt schwinde. Die politischen Ränder würden stärker. In immer mehr Streitfragen stünden sich die Lager immer unversöhnlicher gegenüber. Dieses Trommelfeuer an Warnungen zeigt Wirkung: Das Narrativ der Spaltung prägt das Erleben und Handeln. In der Folge nehmen Sorgen und Ängste der Menschen zu. Parteien, Interessenverbände und Forschende versprechen gegenzusteuern und reklamieren Mittel dafür.

Doch wie gerechtfertigt sind diese Warnungen? Jürgen Kaube, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und André Kieserling, Soziologieprofessor an der Universität Bielefeld, haben dies gründlich und detailliert geprüft. Ergebnis ihres an ein breites Publikum gerichteten Sachbuchs: Hinter den Warnungen steckt wenig Substanz. Die Beschwörung von Spaltung orientiert sich an Resonanz, nicht an Evidenz.

Rhetorik im Zangengriff

Die Autoren kommen zu diesem Urteil, indem sie die entsprechende Rhetorik in einen Zangengriff nehmen. Die eine Zangenbacke ist der Vergleich mit anderen Nationen. Man sieht die Entwicklung in Deutschland klarer und heller, wenn man sie etwa mit der In den Niederlanden vergleicht, die historisch geprägt sind von der „Versäulung“, einer nach Konfessionen ausgerichteten scharfen Segregation der Bevölkerung. Oder mit der in den USA mit ihrer wachsenden Polarisierung zwischen parteipolitischen Lagern. Oder mit der in Nordirland, wo eine Spaltung die Gestalt des Bürgerkriegs annahm.

Weitere Kontrastfolien wären Frankreich, Israel, Syrien oder Nigeria. Auch der Vergleich mit den totalitären Epochen deutscher Geschichte ist hilfreich, um die Diagnose zu relativieren. Die andere Zangenbacke ist die systemtheoretische Perspektive. Im Anschluss an den Sozialtheoretiker Niklas Luhmann sehen sie unsere Gesellschaft geprägt durch eine scharfe Differenzierung von Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport oder Erziehung. Die bilden je eigene Funktionsweisen, Regeln und Rollen aus. Wir alle agieren zugleich in diesen sehr verschiedenen Rollen und wissen mehr oder weniger sauber dazwischen zu trennen.

Kein Berliner Bäcker knüpft den Brotverkauf an ein religiöses Bekenntnis des Kunden. Und bei neun von zehn deutschen Hochzeitsfeiern bleibt Politik konsequent ausgespart, damit der Abend frei von Zwietracht bleibt. Alkohol mag einen Verstoß gegen diese Norm wahrscheinlicher machen, aber entscheidend ist, dass die Trennungsnorm auch dann maßgebend bleibt. Diese Trennung verhindert ein Überschwappen eines Konflikts in der einen Beziehung in die anderen Beziehungen.

Kooperieren und konfligieren

Wir kooperieren zumeist reibungslos in einer Hinsicht mit Leuten, mit denen wir in anderer Hinsicht konfligieren. Das sorgt für Zivilisierung. Solange der Sport nicht nach der Konfliktlinie „Heimat“ gegen „Welt“ getrennt wird, solange muss man sich über den Zusammenhalt keine Sorgen machen. Auf dieser Grundlage leuchten die Autoren die vielen Varianten der Spaltungswarnung tiefenscharf aus.

So zeigen sie schonungslos die inneren Widersprüche von identitätspolitischen Bewegungen auf, etwa dass diejenigen, die gegen eine Dominanz alter weißer Männer mobilisieren, mit eben diesen kooperieren müssen, wenn sie substanziell etwas erreichen wollen. Und sie machen deutlich, dass der hohe Anteil an Wechselwählern und die bunte Vielfalt der Koalitionen in den Bundesländern schlagende Argumente gegen die Behauptung der Lagerbildung sind.

Andere sezierte Behauptungen beziehen sich auf „Parallelgesellschaften“, auf die Corona-Pandemie oder auf Migration. Die Argumentation in diesem streitlustigen und scharfsinnigen Buch wäre noch überzeugender geraten, wenn die Autoren ihre skeptische Position systematischer durch die vorliegenden empirischen Befunde zu diesem Thema untermauert hätten. Vor allem Steffen Mau hat für Deutschland belegt, dass in Streitfragen die Mitte stark ist und die Ränder schwach sind. Deutsche neigen zum Sowohl – Als auch und meiden das Entweder- Oder.

Wachsende Konkurrenz der Medien

Wenn also die inflationäre Rhetorik kein Reflex auf soziale und politische Verwerfungen ist: Wie ist der Höhenflug der Spaltungswarnung dann zu erklären? Es wäre zu einfach, dies nur den Medien in die Schuhe zu schieben. Das würde sie größer machen, als sie es nachweislich sind – auch in einer Zeit wachsender Konkurrenz zwischen den Medien. Und das heißt auch: zwischen Massenmedien und sozialen Medien.

Die Autoren zeigen vielmehr noch auf andere Verantwortliche. Unter dem Stichwort „Konfliktaufwertung“ machen sie deutlich, dass jede Interessengruppe alles daran setzt, um für ihre Position öffentliche Aufmerksamkeit und in der Folge politische Unterstützung und finanzielle Mittel zu gewinnen. Die Zunahme der Spaltungswarnungen wäre damit eine Folge davon, dass sich Öffentlichkeitsarbeit professionalisiert. In jedem Grundkurs zu strategischer politischer Kommunikation wird gelernt und geübt, wie Partikularinteressen zum Gemeinwohl geadelt werden und wie eine leichte Brise zum Anzeichen eines Sturms dramatisiert werden kann.

Mit Erfolg: Nun werden alltäglich die vier apokalyptischen Reiter durchs Land getrieben. Und mit einem zweiten Stichwort „Angstlust“ machen die Autoren deutlich, dass wir alle von Spaltungsbehauptungen um so mehr angezogen werden, je drastischer sie ausfallen. Diese Diagnose zeigt auch schon den Weg zur Therapie heraus aus der Phobie. Da kann jeder sein eigener Verhaltenstherapeut sein: Wer Distanz zum Alarmismus hält, lebt realitätstüchtiger und vor allem ruhiger.