Ewald Fries Abschiedsgesang auf die Bauernkultur: Bildung ist die neue Währung
Ewald Fries Abgesang auf die bäuerliche Kultur hält sich hartnäckig auf der Sachbuchbestsellerliste. Sogar mit dem Sachbuchpreis wurde der Band ausgezeichnet. Ein erstaunlicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass „Ein Hof und elf Geschwister“ keinerlei Landlust-Romantizismen bedient.
Ja, überhaupt keinerlei Ranwanzerei an die noch in den Ausläufern der Nachkriegszeit verhafteteten Kindheitsmuster kaufkräftiger Boomer, die – als Akademiker in der Stadt die bäuerliche Vergangenheit als exotisch empfindend – jetzt das Buch auf der Suche nach Selbstvergewisserung Eltern und Kindern schenken.
Stattdessen informiert der Tübinger Historiker Ewald Frie, dessen neu erzählte „Geschichte der Welt“ sich ebenfalls blendend verkaufte, detailliert über die Zuchtmodalitäten der münsterländischen Rotbunten. Jener Rinderrasse , deren Zucht Bernhard Frie, den Vater des Autors, in den fünfziger Jahren mit seiner Paradekuh „Wolke II“ zu einer Berühmtheit der regionalen Bauernschaft macht.
„Wolke II“ verfügt über den nötigen „Adel“, den eine Spitzen-Rotbunte in Sachen Milchleistung und Bemuskelung braucht. Und die Zuchtvereine sind mit Fachjargon, Messen und Auktionen eine Welt für sich, in die Sohn Ewald, der als 1962 geborener Sohn unter zehn Geschwistern aufwächst, keinen Zugang mehr findet.
Ebenso wie die anderen in den sechziger Jahren geborenen Kinder der Fries rechnet er sich nicht der Ära des 1910 geborenen Vaters, sondern den „Jahren der Mutter“ zu. Die Bäuerin ist Jahrgang 1922, bekommt zusätzlich zur Arbeit in Hof und Garten alle zwei Jahre ein Kind (elf überleben) und schafft es trotzdem, sich noch eine Welt jenseits der Bauerschaft Horst zu erschließen.
So heißt die Siedlung im Münsterland, wo der Frie’sche Hof einige Kilometer vom nächsten Dorf entfernt liegt. Mutters Fahrschein zu Ämtern und Kontakten ist die Aufbruchstimmung im Reformkatholizismus der Sechziger. Ein mehr ins Weltläufige driftender Kosmos, anders als die hermetischen Züchterzirkel des Vaters, die ihrerseits dem traditionellen Bauernstolz verhaftet sind.
Bildungsaufsteiger der Bundesrepubllk
Beides – die alte und die neue Zeit – existieren in der Ehe und auf dem Hof zeitweilig auch nebeneinander. Hier der wortkarge, von den Kriegsjahren geprägte Vater, der seiner vielfach operierten Füße wegen nie an die Front musste und der Scholle verhaftet blieb. Da die kommunikativere, sich mehr zur Dorfgesellschaft hinwendende Mutter und der durch den Katholizismus grundierte Pakt zwischen beiden. Das sind Phänotypen, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur in Bauernfamilien finden. Das ist ein Topos, ein bundesrepublikanisches Sittenbild, dass die Bildungsaufsteiger der ersten Bafög-Jahre zur Identifikation einlädt.
Trotz des Kinderreichtums und der „knochenbiegenden Arbeit“, wie Frie die Zeit vor der Technisierung der Landwirtschaft ab den Sechzigern nennt, schaffen es die Eltern, allen eine Ausbildung und den meisten gar ein Studium zu ermöglichen. Sie verlassen das Land mit dem Segen der Eltern. Die Kinder, auch die Töchter, sollen es schließlich besser haben. Der älteste Bruder habe die Veränderung der ländlichen Welt als Hoferbe mitgestaltet, schreibt Frie: „Wir anderen haben sie verlassen, ausgestattet mit der neuen Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß“.
Gespiegelt durch die Erinnerungen aller Geschwister, mit denen Frie Interviews geführt hat, entfaltet sich das Großes im Kleinen suchende, fast zu lakonisch erzählte Szenario eines gesellschaftlichen Umbruchs, dessen Folgen bis in die Stadt-Land-Animositäten von heute hineinwirken.
Das stolze Bauerntum des Bernhard Frie ist in der konventionellen Agrarindustrie dem volltechnisierten Ein-Mann-Betrieb gewichen, in dem Kinder oder Ehefrauen selbstverständlich eigene Wege gehen. Der Wegfall der Knochenarbeit hat die Individuen befreit. Um den Zusammenhalt stiftenden Preis ländlicher Identität, deren Fehlen die Menschen zu vermeintlich nostalgischen Büchern greifen lässt.