So nah, als wär’ man da
Jetzt mussten sie sogar ihr Festkonzert verschieben. Am 26. Mai sollte groß gefeiert werden am Gendarmenmarkt, zur Erinnerung an die Eröffnung von Schinkels Schauspielhaus 1821. Chefdirigent Christoph Eschenbach wollte einen Spannungsbogen über 200 Jahre Kulturgeschichte schlagen, einschließlich diverser Namensänderungen: Erst 1984 war das kriegszerstörte Gebäude aus Ruinen auferstanden, 1992 wurde es in Konzerthaus umbenannt, zwei Jahre später mutierte dann das Berliner Sinfonie-Orchester zum Konzerthausorchester.
Unbekannt ist das neue Datum der Jubiläumsgala noch, die Aufführung von Carl Maria von Webers „Freischütz“ aber kann immerhin wie geplant am 18. Juni stattfinden, zumindest live gestreamt aus dem Konzerthaus beim Fernsehsender Arte. Weil der damalige Hofopernintendant Gaspare Spontini Unter den Linden kein deutschsprachiges Werk herausbringen wollte, fand die Uraufführung im Juni 1821 am Gendarmenmarkt statt. Die Ouvertüre sowie die Arien des Ännchen, gesungen von Anna Prohaska, finden sich auch auf der CD, die Eschenbach und sein Orchester nun zum Jubiläum aufgenommen haben (die CD ist erschienen bei Alpha Classics).
Man will sofort die ganze Oper hören
Wer ein pflichtschuldiges Anno-Dazumal-Album erwartet, wird aufs Positivste überrascht: Springlebendig klingt das Orchester, bis ans hinterste Notenpult sind alle Beteiligten mit rückhaltlosem Engagement dabei. Brillant und klangfarbensprühend spielen die Musikerinnen und Musiker, als hätte es nie eine Lockdown- Zwangspause gegeben. So packend gelingt ihnen die „Freischütz“-Ouvertüre, dass man sofort die ganze Oper hören möchte.
Christoph Eschenbach gestaltet die schauerromantischen Hell-Dunkel-Kontraste mit bezwingender Stringenz, schenkt selbst noch dem kleinsten Detail der Nebenstimmen Beachtung, vermag er seine Erfahrung mit Emphase zu verbinden. Die Luft im Saal scheint förmlich zu zittern bei dieser „Alle für einen, einer für alle“-Interpretation.
Der Hörer wähnt sich mitten im Orchester
Wozu auch die Tontechniker ihren Beitrag leisten: So raffiniert haben sie ihre Mikrofone platziert, dass sich der Hörer mittendrin wähnt im Tongetümmel, vom kraftvollen Klang des Kollektivs förmlich umfangen. Grandios gelingen auch die anderen, weniger bekannten Weber-Werke, die Vorspiele zum „Rübezahl“ und „Oberon“ sowie das Konzertstück für Klavier und Orchester. Wie eine Tondichtung funktioniert dieses Virtuosenstück mit vier kontrastierenden Stimmungsbildern, zu denen sich jeder sein eigenes Kopfkino kreieren kann. Pianist Martin Helmchen gestaltet den Solopart geschmackssicher, mit Sinn fürs Theatrale, aber nie effekthascherisch.
Mit bitterer Enttäuschung mischt sich die Begeisterung über diese CD beim Gedanken daran, dass man Helmchen zusammen mit dem Konzerthausorchester am 26. Mai vor Ort hätte erleben sollen. Bis zum 20. Mai hat sich Intendant Sebastian Nordmann Bedenkzeit erbeten, dann will er verkünden, was sich vom opulent geplanten Jubiläumsprogramm noch retten lässt.