Misshandeln oder misshandelt werden : „Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun“ im Gorki
Über Putins erratische Psyche ist mittlerweile bis zur Erschöpfung orakelt worden, aber was der Schriftsteller Boris Schumatsky im Videoeinspieler auf der Bühne des Studio Я sagt, das lässt doch aufhorchen. Der Kriegstreiber habe Angst davor, im Falle seines Machtverlustes zu einem zu werden, „der neben der Latrine schläft“. Schumatsky bezieht sich damit auf die brutale Hierarchie in russischen Gefängnissen, die den Rangniedrigsten in der Zelle den Platz gleich neben dem Klo zuweist. Der Autor beschreibt ein System, das den Insassen nur eine Wahl lässt: Andere misshandeln, oder selbst misshandelt werden. Was sagt das über die russische Gesellschaft aus? Oder, anders: An welcher letzten Grenze kommt das Menschliche abhanden?
Die Frage wirft die Schauspielerin Marina Frenk mit ihrer Performance „Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun“ auf, die jetzt am Gorki Theater uraufgeführt wurde. Im Untertitel heißt der Abend „Gespenster des Totaliautaripostkommupseudoeurasiismus“, es geht um die Situation von politischen Gefangenen vornehmlich in Russland und Belarus, um die Ideologien und historischen Bedingungen, die hinter Gewaltstrukturen wirken – falls nicht, was noch beängstigender wäre, einfach pure Willkür herrscht.
Zwischen Warschau und Berlin
Es ist die erste Premiere der neuen Gorki-Spielzeit, eigentlich hätte auch die neue Arbeit von Oliver Frljić („Frankenstein oder Das verlorene Paradies“) am selben Abend gezeigt werden sollen. Sie musste jedoch wegen eines Todesfalls im engsten Familienkreis des Regisseurs verschoben werden.
Ein paar hundert Kilometer von Berlin entfernt, in Warschau, bringt an diesem Wochenende aber noch Marta Górnicka ihr jüngstes Chorstück „Mothers – A Song For Wartime“ auf die Bühne, eine Gorki-Koproduktion, die im November Berlin-Premiere feiern wird. Und zugleich ist in verschiedenen Räumlichkeiten des Hauses am Festungsgraben – vom Kiosk über den Lichtsaal bis zur Kaiserstube – auch der 6. Berliner Herbstsalon mit einer Reihe von Ausstellungen eröffnet worden. Der Titel der Kunstschau: „Lost – You Go Slavia“.
Gezeigt werden Werke von Künstler:innen aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien, etwa Milica Tomić, die im Gorki-Kiosk „Four Faces of Omarska“ zeigt. Eine Art Installation, die den gesamten Raum in ein Forschungslabor verwandelt und Material über einen Bergbaukomplex in Bosnien und Herzegowina ausbreitet, der in 1990er Jahren ein Folter- und Todeslager war, später von einem Stahlkonzern gekauft wurde und als Drehort des Films „St. Georg tötet den Drachen diente“. Als gigantische Papierrolle wellt sich dazu der Friedensvertrag von Dayton über den Boden.
Wie man einen Menschen bricht
Mit einer Reihe von Videoarbeiten ist auch Danika Dakić vertreten, darunter das jüngst entstandene Werk „Vedo“: In Endlosschleife spielt ein Junge am verlassenen, verschneiten Hauptbahnhof von Sarajewo auf der Ziehharmonika ein Lied, das im russischen Bürgerkrieg entstanden ist und sich später international als Partisan:innen-Hymne verbreitete. „Po šumama i gorama“, „Durch Wälder und über Berge“.
Der Zerfall Jugoslawiens ist ja oft vergessen worden, wenn angesichts der russischen Invasion in der Ukraine vom „ersten Krieg“ auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg die Rede war. Aber ein genauerer Blick in die Geschichte lohnt sich immer, wenn die Gegenwart verstanden werden soll. Das beweist auch Marina Frenk mit ihrer großartigen Performance, in der sie mit der Band „The Disappointalists“ (Lisa Hoppe, Paul Brody, Christian Dawid) dem Krieg nachspürt, der gegen die geistige Freiheit auch in den Gefängnissen geführt wird. Es geht dabei nicht um Einfühlung oder Betroffenheit. Sondern um einen genauen Blick auf die Methoden des Brechens von Menschen. Denn die ändern sich nicht von Krieg zu Krieg.