Das Kulturverständnis der Ampelkoalition hat etwas Übergriffiges
Die R2G-WG ist ja nicht nur ein charmanter Cartoon, sondern auch trockene Realität. In der hauptstädtischen Kulturpolitik bleibt dann wohl alles beim Alten, Klaus Lederer, der Kultursenator, dürfte sein Amt behalten. Hundert Berliner Künstlerinnen und Künstler hatten vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus mit dem Linken-Spitzenmann öffentlich gekuschelt – mit dem „besten Kultursenator, den wir je hatten“. Besser wird’s nicht …
Anders sieht es aus im Bund. Klaus Lederer hat es bald mit einem neuen Gegenüber zu tun: Claudia Roth, früher mal Musikmanagerin. Für die Grünen hat sie sich um auswärtige Kulturpolitik gekümmert. Sonst hat sich aus der Partei im Bund kaum jemand kulturpolitisch profiliert. Erstmals besetzen die Grünen das BKM und übernehmen jetzt Kultur und Medien.
Kulturstaatsmisterin Monika Grütters (CDU) muss nach acht Jahren gehen, die Union sitzt in der Opposition. Es ist das Ende einer langen Tradition. Ob Gerhard Schröder und Michael Naumann, Christina Weiss und Julian Nida-Rümelin, ob Angela Merkel und Bernd Neumann oder eben Monika Grütters – immer kam die Kulturpersönlichkeit aus der Partei des Regierungschefs, mit Büro im Kanzleramt.
Carsten Brosda von der SPD wird es nicht. Der Hamburger Kultursenator und langjährige Vertraute von Olaf Scholz galt noch bis kurz vor Abschluss der Ampel-Verhandlungen als gesetzt für die neue Aufgabe in Berlin. Brosda war Verhandlungsführer der Sozialdemokraten in der Arbeitsgruppe Kultur und Medien. Und was dazu im Koalitionsvertrag steht, trägt seine Handschrift.
Die Kultur war Verhandlungsmasse
Scholz und Brosda hatten im September in einem Beitrag in der „Zeit“ für den „großen Schulterschluss von Kultur und Politik“ und eine „große Kulturdebatte“ geworben. Das sei ehrwürdige Tradition der SPD. Die bekommt in der neuen Legislaturperiode nun ein grünes Kleid. Die Kultur war Verhandlungsmasse, was allerdings auf viele Regierungsämter zutrifft, zumal wenn drei Parteien bedient sein wollen.
Das Ampel-Papier umfasst 170 Seiten. Inflationär taucht dabei das K-Wort auf, freilich in anderen Zusammenhängen. Da geht es um Planungskultur, Aquakultur usw. Zur eigentlichen Sache kommen die Koalitionäre im Kapitel VI. „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“, auf den Seiten 121 bis 127. Wohin geht die Reise? „Wir wollen Kultur mit allen ermöglichen, indem wir ihre Vielfalt und Freiheit sichern, unabhängig von Organisations- oder Ausdrucksform, von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen.“ Ein glatter Durchmarsch.
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Die Ampelmänner und -frauen laden ein und laden sich auf: „Kulturelle und künstlerische Impulse können den Aufbruch unserer Gesellschaft befördern, sie inspirieren und schaffen öffentliche Debattenräume. Wir setzen uns für eine starke Kulturszene und Kreativwirtschaft ein. Wir stehen für eine diskriminierungsfreie Kultur- und Medienpolitik.“
Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit
Darüberhinaus wollen SPD, FDP und Grüne „Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern und treten für Barrierefreiheit, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit ein.“ Kultur als Staatsziel – die Idee ist nicht neu und auch nicht unumstritten. Deutlich wird in solchen Formulierungen, wie sehr die kommende Bundesregierung auf die Kultur zugehen will. Und wie die Kultur politisch eingespannt wird. Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, Nachhaltigkeit sind große und wichtige Themen. Viele kulturelle Institutionen haben sich in dieser Richtung schon selbst verpflichtet, handeln und performen danach und brauchen keinen Nachhilfeunterricht. Es verhält sich eher so, dass die drei Koalitionsparteien von den Theatern, Museen und der Freien Szene gelernt haben.
In einigen Punkten klingt es nach grundsätzlichen Veränderungen: „Wir machen den Gender-Pay-Gap transparent, wollen ihn schließen, streben paritätisch und divers besetzte Jurys und Gremien sowie Amtszeitbegrenzungen an.“ Letzteres wirft die Frage auf, wie das umgesetzt werden soll. Dürfen Intendantinnen, so sie es geworden sind, dann nur acht oder zehn Jahre im Amt sein? Eine 25-jährige Frank-Castorf-Intendanz oder über 20 Jahre Thomas Ostermeier an der Schaubühne oder eine Daniel-Barenboim-Ewigkeit an der Staatsoper wären dann im Prinzip Vergangenheit, auch wenn die Verantwortung hier beim Land liegt.
Das kann man begrüßen, es birgt aber auch Gefahren. Das Kulturverständnis der Ampel-Koalitionäre hat durchaus etwas Übergriffiges. Und dann wieder ist es fürsorglich, vor- und nachsorgend, wenn es zu den Freien und Selbstständigen in der Kreativwirtschaft kommt. Sie sollen gestärkt werden. Die Clubszene kann sich freuen, denn „Clubs und Livemusikstätten sind Kulturorte. Wir sichern kulturelle Nutzungen in hoch verdichteten Räumen und unterstützen Investitionen in Schallschutz und Nachhaltigkeit. Wir wollen die Musikspielstättenförderung weiterentwickeln und freie Kulturorte wie Galerien unterstützen.“
Erinnerungskultur, Raubkunst und koloniales Erbe
Das sieht auch Klaus Lederer so, es entspricht seiner am jüngeren Publikum orientierten Kulturpolitik. Überhaupt fällt auf, wie nah die Parteien – abgesehen von der AfD – bei den großen und auch den kleineren Themen der Kultur beieinanderliegen. Erinnerungskultur, Raubkunst und koloniales Erbe, Denkmalschutz: Hier schreiben die Neuen die bisherige Agenda fort, wollen sie beschleunigen und ökologischer arbeiten.
Das Goethe-Institut feiert in diesen Tagen 70. Geburtstag und findet sich im Koalitionsvertrag sicher gut wieder, wenn es dort heißt: „Die internationale Kulturpolitik ist die Dritte Säule unserer Außenpolitik, sie verbindet Gesellschaften, Kulturen und Menschen und ist unser Angebot für eine Werte- und Verantwortungsgemeinschaft in Europa und weltweit. Wir werden sie weiter stärken, flexibilisieren, über Ressortgrenzen koordinieren und auf europäischer Ebene eng abstimmen.“ Auch hier soll und muss es um das Klima gehen, ist von umfassenden Nachhaltigkeits-, Diversitäts- und Digitalstrategien“ die Rede und von „Science Diplomacy durch internationale Kooperationen und Austausch.“
Dass die Politik die Kultur für übergeordnete Themen und Ziele einspannt, ist bei den Grünen keine Überraschung; bei den Liberalen schon und auch ein wenig bei der SPD. Gleichzeitig sind in der Pandemie die Kulturschaffenden in großer Zahl auf die Politik zugegangen. Sie suchten Schutz. Viele Künstlerinnen und Künstler haben ihren Platz, ihre Verdienstmöglichkeiten verloren. Ihnen muss geholfen werden, damit sie wieder frei aufspielen und nicht um Stütze bitten müssen.