Wilde Welten: Das breite Feld der Fotografie wird ausgelotet

Wenn drei Fotografen aus drei Nationen auf die Welt blicken, fällt das Ergebnis überaus unterschiedlich aus. Der Kunsthandel Maaß stellt es in einer Gruppenschau zusammen, die Positionen könnten kaum weiter auseinander driften. Was sie eint, ist der autodidaktische Umgang mit der Kamera.

„24 Stunden Bowle“ lautet übersetzt die spanische Schrift an einem Autoreifen, aufgehängt an einem Mast vor maroden Häuserfassaden. Alles scheint hier kaputt, hat aber seinen Reiz. Die Aufnahme, bereits im MoMA in New York vertreten, stammt aus der Reihe „Havanna“ (2006) des US-Amerikaners Charles Johnstone, Jahrgang 1952. Er spürt menschenleeren städtischen Orten nach, eine Topografie der Stille herrscht in seinen dezent farbigen Bildern. Ab 2008 fotografierte er die sogenannten Storefront Churches – ehemalige Ladenlokale, die heute als Kirchen dienen. Dazu Wellblechzäune, Schwimmbäder, Basketball- und Handballplätzen seiner Heimatstadt New York, die hier zu schlafen scheint.

Der mehrfach ausgezeichnete US-Dokumentarfilm „Remnants of Memory“ von Michael Arlen Davis, der bei Maaß ebenfalls zu sehen ist, folgt Johnstone auf dessen Streifzügen durch Venedig, wo er 2015 in der Serie „Chioschi a Venezia“ seine Linse auf Zeitungskioske richtete. Wie einsame Inseln schwimmen sie auf der Lagunenstadt, die im Meer zu versinken droht (2000-8500 €). Johnstones Arbeiten werden auch als in limitierter Auflage produzierte Künstlerbücher vertrieben. Bei Maaß sind sie zu Preisen zwischen 75 und 300 Euro zu erwerben.

Schimmernde Gläser, Vollmond über dem Baum

Ein Meister des Lichts und der Komposition ist Gilles Lorin, geboren 1973 in Aix-en-Provence. Die Prints seiner analogen Fotos stellt er höchst experimentierfreudig im Selfmade-Verfahren her. Er studierte in Paris Kunstgeschichte und Archäologie und war als Experte für asiatische Kunst tätig. Nach einem Unfall und langer Krankheit fand er endgültig zur Fotografie, die zum Ruhepol in seinem Leben wurde. Entsprechend wählt er seine Motive: So arrangiert er in der Manier der Barockmaler dunkeltonige Stillleben aus schimmernden Gläsern, Pflanzen und Totenschädeln, die als Memento mori eine geradezu mystische Atmosphäre verbreiten.

Auch Ansichten von Kirchen gehören zu seinen Sujets. Meist sind es Platin-Palladium-Abzüge, gedruckt auf exklusiven handgefertigten Papieren. Manche Varianten sind mit Blattgold hinterlegt, was den Werken die Aura alter Grafiken verleiht. Seine bläulichen Landschafts-Cyanotypien aus den „Portraits of Dao“ von 2018 huldigen dem Buddhismus. Ein Blick in einen Wald, ein einsamer Baum, Vollmond über der Landschaft (4200-8800 €).

Ist bei Johnstone und Lorin der Mensch abwesend, so taucht er bei Kayee C. gleich in multiplizierte Form auf. Sie ist die Jüngste im Bund bei Maaß, 1983 in Hongkong geboren und heute in Frankreich lebend. Als Hörgeschädigte hat sie sich eine solistische Arbeitsweise angeeignet. Ihre digitalen Fotografien in knalligen Farben wirken geradezu laut und scheinen die körperliche Beeinträchtigung zu kompensieren. Sie entstehen aus Selbstbildnissen in verschiedenen Posen und Verkleidungen, die Kayee raffiniert zu halb surrealen Gruppenporträts zusammenfügt, um Gewalt, Sinnlichkeit, Rollenklischees wie auch den Spagat zwischen Individualität und Gemeinschaft zu demonstrieren.

Oft bezieht sie sich auf bekannte Gemälde von alten Meistern, etwa Leonardos „Letztes Abendmahl“, das schon diverse Adaptionen über sich ergehen lassen musste und nun in einem Wand füllenden Breitformat Christus und seine Jünger durch zwölf Kayees ersetzt, die miteinander disputieren. Noch bizarrer ist die Metamorphose von kunsthistorischer Vorlage in ein fotografisches Motiv bei der „Family Resemblance“ von 2019, das von einem Stillleben des Spaniers Cotán inspiriert ist, heute Schatz des Madrider Prados. Kayee verwandelte Wildbret, Früchte und Gemüse in Akteure auf einer Guckkastenbühne. Stets erkennbar ist die zierliche Künstlerin an den auf den Armen eingravierten Tattoos, die ihren Bildern gleich einer Signatur den Stempel verleihen (1800 €).