Isarflimmern : Neues Deutsches Kino beim Filmfest München
Mit ihrem Abschied kam der Regen. Die zwölfjährige Amtszeit von Diane Iljine als Leiterin des Filmfests München endete klatschnass, genau nach der letzten beliebten „Beergarden Convention“, zu der sich die Filmbranche im Garten des Festivalzentrums Amerikahaus täglich versammelte. Die Pläne des obersten Cineasten Markus Söder, das heimische Filmfest zur Gegen-Berlinale auszubauen, sind längst verpufft. Deshalb besann sich das Team rund um Diana Iljine – die Fragen zum Grund ihres Weggangs weglächelt – und ihren designierten Interims-Nachfolger, den Künstlerischen Leiter Christoph Gröner, zum 40. Jubiläum auf die Münchner Kerntugenden: entspannte, sommerliche Lebensfreude und Publikumsnähe.
Erinnerung an Willy Michl
Erstmals wurde ein Isarschwimmen angeboten, was bei den Teams der 147 gezeigten Filme (darunter 75 Weltpremieren) trotz der frühen Stunde Zuspruch fand. Das erinnert an das alte „Isarflimmern“ des Münchner Bluesbarden Willy Michl und damit an jenes spezifische Sommergefühl, das sich erstmals 1983 durch den verstorbenen Gründer Eberhard Hauff als Filmfest materialisierte. Er leitete es bis 2003, immer bestrebt, ein „Ereignis zu schaffen und Lust auf Kino zu machen“.
Vom Isarflimmern zu einem unbewegten azurblauen Pool in Jaffa: Das Element Wasser spielt in drei von insgesamt 15 Filmen der Reihe Neues Deutsches Kino eine wichtige Rolle. In Henrika Kulls drittem Spielfilm „Südsee“ trifft die Deutsche Anne während eines Israel-Stipendiums auf Nuri, der sich in Haus und Pool seiner abwesenden Eltern in den Bergen bei Tel Aviv entspannt.
Der Eingangscode für die Tür lautet ironischerweise 1945. Anne (Liliane Amuat) ist unglücklich in einen abwesenden Israeli verliebt, dessen Akzent irgendwie Französisch klingt. Nuri promoviert über Martin Buber und hört am liebsten Richard Wagner oder Lacan-Podcasts. Während sich die Kamera ganz dem Spiel mit dem Licht hingibt, entfaltet sich eine reizvoll träge Erotik – mit dem Konflikt zwischen der Hamas und der israelischen Armee als Geräuschkulisse. Für seine laut Jury „sehr interessante Mischung aus Leichtigkeit, Sinnlichkeit und einem unaufgeregten Spiel“ erhielt Dor Aloni als Nuri den Förderpreis Neues Deutsches Kino in der Kategorie Schauspiel.
Das winterliche Kaspische Meer ist der heimliche Hauptdarsteller in „Leere Netze“ des in Deutschland lebenden iranischen Regisseurs Behrooz Karamizade. Sadaf Asgari und Hamid Reza Abbasi spielen ein junges Teheraner Liebespaar, das wegen der zu hohen Mitgift nicht zueinander findet. Die beiden waren das erste Mal außerhalb Irans. „Wie mimt man ein Liebespaar, das sich nicht berühren darf?“, wurde aus dem Publikum gefragt Indem man symbolisch eine gemeinsame Pizza verzehrt, verriet Sadaf Asgari in der Rolle der Narges. Am Beispiel des illegalen Kaviar-Handels im Iran zeigt das zeitlose Drama eine Gesellschaft, die nach Veränderung lechzt.
Schwindender Sauerstoff
Ist es als Innovation zu werten, wenn ein deutscher Kinofilm ohne ein Wort Deutsch auskommt? Diese Frage stellt sich bei dem Tiefsee-Thriller „The Dive“ des passionierten Tauchers Maximilian Erlenwein nach der Vorlage „Breaking the Surface“ des Schweden Joachim Hedén (der sich über das Remake anerkennend äußerte) – aber nur ein paar Minuten, denn dann zieht einen Frank Griebes bravouröse Kamera unweigerlich hinab auf den Meeresgrund.
Zwei US-amerikanische Schwestern, die sich dringend aussprechen müssten, unternehmen stattdessen an der Küste von La Palma einen Tauchgang. Es kommt zu einem Felssturz, die dominante May steckt in einer Höhle fest – ab da läuft mit dem schwindenden Sauerstoff die Zeit für ihre Rettung ab.
Menschen mit Schwierigkeiten wird in unserer Gesellschaft oft das Gefühl vermittelt, ihre Lage sei selbstverschuldet.
Christina Ebelt, Regisseurin.
In einer ähnlich ausweglosen Lage befindet sich der Arzt Bruno in dem Neo-Noir „Schock – kein Weg zurück“. Der Hauptdarsteller Denis Moschitto realisierte ihn mit Daniel Rakete Siegel in einem so noch nie gesehenen nächtlich-kalten Köln ganz in Schwarz-Graut-Rot. Bruno hat seine Approbation verloren und verarztet die Unterwelt, bis er selbst zwischen die Fronten gerät. Das zweite Kino-Halbjahr verspricht noch mehr solcher einsamen Heldinnen und Helden im Kampf gegen die Gesellschaft. Großartig verkörpert im Wortsinn Franziska Hartmann in „Monster im Kopf“ von Christina Ebelt eine hochschwangere Strafgefangene, die ihre Aggressionen nur mühsam im Griff hat. Bevor sie täglich ihre pflegebedürftige Mutter besucht, schüttelt sie sich vor deren Tür einmal durch. Es gehe ihr um die Darstellung von Zuständen, sagte Ebelt im Gespräch mit Christoph Gröner, dem Kurator der Reihe: „Menschen mit Schwierigkeiten wird in unserer Gesellschaft oft das Gefühl vermittelt, ihre Lage sei selbstverschuldet.“
Kampfmoral im Tagebau
Henning Beckhoff kontrastiert in „Fossil“ elegisch leere Braunkohle-Landschaften mit der Kampfmoral eines Tagebau-Arbeiters um die sechzig (großartig: Markus Hering), der sich gegen die politisch opportune Abwicklung seines Arbeitsplatzes sträubt. Beckhoff erhielt hochverdient den Fipresci-Preis. Mülltrennung, Problemwohnung, Terrorzelle: Das sind Stichworte der Neuen Deutschen Gereiztheit, wie sie Asli Özges klaustrophobisches Berliner Hinterhofdrama „Black Box“ vorführt. Der hochkarätige Ensemblefilm wartet unter anderem mit Christian Berkel als entfesseltem Rechthaber auf, verhandelt jedoch zu viele Konflikte gleichzeitig. Von Anfang an gestritten wird in „Clashing Differences“ von Merle Grimme, die frech Identitätsdebatten aufspießt: „Eine halbschwarze Kamerafrau? Mein Tag ist gerettet!“. Dafür erhielt sie den Förderpreis in der Kategorie Drehbuch. Stichwort Ausweglosigkeit: Wohin Fremdenfeindlichkeit führen kann, thematisiert anhand eines realen Berliner Falles einer arabischstämmigen Familie Erol Afṣins Debütfilm „Es brennt“ auf höchst beklemmende Weise. Ihm ist ein breites, vor allem junges Publikum zu wünschen.
Der Förderpreis Neues Deutsches Kino ging überraschend an „More than Strangers“ der Französin Sylvie Michel. Darin gerät der werdende Vater Patrick (Cyril Guei), der einen Wagen von Berlin nach Paris überführt, durch die diversen Probleme seiner Mitreisenden in arge Turbulenzen: ein recht konstruiertes Auto-Kammerspiel. Gar nicht konstruiert genug hingegen kann für Franz Müller das Paradies sein, so wie es sich Mark Twain in „Die Tagebücher von Adam und Eva“ vorstellte. Mit der Verfilmung seines erklärten Lieblingsbuchs in einem argentinischen Nationalpark ist Müller erneut ein Triumph der Phantasie gelungen, unterstützt durch die sagenhaften Kostüme von Chiara Minchio. Die ersten Menschen mit ihren Wollperücken und bunten Plastikbrustwarzen sollen nächstes Frühjahr ins Kino kommen.