Gezeichnete Familiengeschichte

Die Geschichte begann im Strandbad Wannsee: 1931 lernen sich Else Rahtung und Heinrich Schott am Berliner Sandstrand kennen und wurden ein Paar. Er hatte Dentist gelernt, war ohne Arbeit, wurde 1933 Buchhalter bei der „Deutschen Arbeitsfront“ DAF, dort, wo alle Gewerkschaften von den Nazis zwangsvereinigt wurden. Schott trug damals Hitlerbärtchen.

[„Da war auch manchmal diese Angst, Schlimmstes zu entdecken“: Im Tagesspiegel-Interview erzählt Bianca Schaalburg von der Arbeit an „Der Duft der Kiefern“ (T+, kostenpflichtig).]

Else war zu der Zeit 21 Jahre alt, hatte eine Haushaltsschule besucht, wurde Hausfrau und Mutter. 1939 kam das vierte Kind der Familie zur Welt – das Mädchen wurde nach der Tochter von Reichsmarschall Hermann Göring benannt: Edda, geboren im Krankenhaus Waldfriede. Ab 1936 wohnten die Schotts in der Waldsiedlung Zehlendorf, Eisvogelweg 5.

Eddas Tochter Bianca Schaalburg, 53, von Beruf Illustratorin, hat die Geschichte ihrer Familie nun im Wortsinn aufgezeichnet. Sie legt mit dem Buch „Der Duft der Kiefern“ (avant-Verlag, 208 S., 26 €) ihr Graphic-Novel-Debüt vor. Ihre Familiengeschichte über drei Generationen hat sie zu einem Roman in Comicform gemacht.

Zehlendorf ist prägender Ort der Handlung: die von Bruno Taut entworfenen Häuser, die Ladenstraße am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte mit dem damaligen 600 Plätze umfassenden Kino und immer wieder die Krumme Lanke und der Schlachtensee.

Die Reise in die Vergangenheit begann mit einer Erbschaft

Oder beginnt die Geschichte doch mit einem schweren Nussbaumschrank und einer Spiegelkonsole? Als Biancas Oma Else 2004 ins Pflegeheim umzieht, erbt ihre Enkelin die Möbel; die Großeltern hatten sie 1933 zur Hochzeit geschenkt bekommen. Auch ein Familienfoto gehörte zum geerbten Ensemble: Die Reise in die eigene Vergangenheit, in die Zehlendorfer Kindheit und Kriegszeit, in die Geheimnisse der Familie begann.

Von nichts gewusst? Eine weitere Szene aus „Der Duft der Kiefern“.Foto: avant

Und Geheimnisse gab es genug. Warum war ihr Vater schon 1926 Mitglied der NSDAP geworden? Was wurde aus dem Familienarzt Dr. Demuth? Was hat ihr Vater in der Wehrmacht in Riga gemacht und warum trug er dort das Hitlerbärtchen nicht mehr? Was wurde aus den drei Juden, Clara Hipp, Carl Loewensohn und Margarethe Silbermann, die vor 1936 im Eisvogelweg 5 wohnten? Warum sagte Oma Else, von Judenverfolgung habe sie nichts gewusst?

War der Großvater an Massenerschießungen beteiligt?

Auf mehr als 200 Seiten blättert die Autorin die Familiengeschichte auf, stets ohne anzuklagen. Manche Geheimnisse bleiben: War ihr Großvater Heinrich als Wehrmachtsoffizier an den Massenerschießungen von 40.000 Jüdinnen und Juden im Wald von Bikernieki bei Riga oder an anderen Massenmorden beteiligt?

Manche Fragen der Autorin blieben bis zum Schluss unbeantwortet.Foto: avant

Ungewiss. „Mein Vater organisierte Nachschub für die Front, sagte mein Onkel. Mag sein.“ Das nächste Bild betitelt Bianca Schaalburg so: „Er war für Wohnungsauflösungen zuständig, glaubte meine Mutter.“

Eine Recherchereise nach Riga

Die Autorin reiste mit einem ihrer Söhne nach Riga, sah die 5000 Gedenksteine für die Ermordeten zwischen Bäumen – im Duft von Kiefern, wie in ihrer Kindheit. Denn jeden zweiten Sonntag besuchten Edda, Bianca und ihr Bruder Ferdinand Oma und Uroma in der Waldsiedlung unter Nadelbäumen.

[„Der Duft der Kiefern“ war im vergangenen Jahr eines der Projekte, die der Berliner Senat mit seinen Comicstipendien gefördert hat. Mehr dazu hier. ]

Es sind eindringliche Bilder, es sind Collagen aus Fundstücken, Fotos und Zeichnungen, eine immerwährende Zeitreise. Die Lektüre von „Der Duft der Kiefern“ zieht auch jene in den Bann, die glauben, eigentlich mit Graphic-Novels, mit Comics, nichts anfangen zu können.

Das Titelbild von „Der Duft der Kiefern“.Foto: avant

Die Geschichte ist eindringlich erzählt, nicht nur die Bilder sind gelungen, der Text ist stimmig, die Dialoge sind nachvollziehbar. Vom Zweiten Weltkrieg über die Studentenbewegung der sechziger Jahre bis zum Mauerfall wird eine Familiengeschichte aufgeblättert, die so einzigartig nicht war, und doch selten erzählt wird.

[Dieser Text erschien zuerst im Steglitz-Zehlendorf-Newsletter des Tagesspiegels. Den sowie die anderen Leute-Newsletter des Tagesspiegels gibt es hier gratis im Abonnement.]

Eine Geschichte, die in Berlins Südwesten spielt: 1947 brachte Opa Heinrich seiner Tochter Edda in der Krummen Lanke das Schwimmen bei. 27 Jahre später schwamm Edda mit Bianca zum ersten Mal über den See.

Noch einmal 28 Jahre später erreichte Enkel Emile mit seiner Oma Edda erstmals das andere Seeufer, umgeben vom Duft der Kiefern.