Deutschland tut längst nicht das, was nötig wäre

Viele Geschichten, viele Fotos. Wenige Details auf den vielen Fotos bleiben, kehren wieder und wieder. Die Hand. Das Bobbycar. Der Mann unter seinem Fahrrad. Die dreiköpfige Familie, Mann und Frau und Sohn. Der Mann steigt aus dem Auto, winkt, wird erschossen.

Ich träume davon und denke an Haiti zurück, wo 2010, durch das Erdbeben, 316 000 Menschen starben. Ich denke an Luisa, die ihre Tochter María unter dem Staub, unter den Brocken eines Hotels suchte, zwei Wochen lang, und nicht fand.

Ich denke an Haydar, den ich 2003 an einem Massengrab in Hillah im Irak traf, wo er Minuten zuvor seine Mutter gefunden hatte. Haydar erzählte, wie er den Vater, die Mutter und den älteren Bruder verloren hatte, verschwunden und nie wieder aufgetaucht, Schiiten waren sie, von einem Sunniten regiert, Saddam Hussein. Von jenem Tag an musste Haydar, das Kind, für die sieben kleineren Geschwister sorgen und die Großen suchen, das war sein Leben, das ganze.

Es geht meist um andere Dinge als das Überleben

Für uns in Deutschland ist das Leben nicht so: so roh, ohne Gnade. Meist geht es für uns um andere Dinge als das Überleben, das wir voraussetzen. Wir haben Ziele, Alternativen, machen Pläne, Kompromisse. Und manchmal schummeln wir uns an Wahrheiten entlang, die nicht kompliziert wären, nur unbequem.

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Für den „New Yorker“ hat James Nachtwey in Butscha fotografiert, und der Autor Luke Mogelson berichtet von Iryna Havryliuk, die Anfang März über eisige Flüsse Richtung Westen floh; ihr Mann Sergey blieb mit den Hunden zurück. Nachdem die Russen in Butscha die Mobiltelefone konfisziert hatten, konnte sie mit Sergey nicht mehr sprechen.

Nach vier Wochen zogen die Russen ab, und Iryna kehrte heim, hörte, Sergey sei tot, fand ihn, seinen Bruder Roman und einen dritten Mann, den sie nicht kannte, im Garten; Sergey lag neben dem Brennholz, sie hatten ihm durch das rechte Auge geschossen.

Kinder gehen durch Butscha.Foto: dpa/Rodrigo Abd

Warum foltern Russen die Ukrainer? Warum vergewaltigen sie Ukrainerinnen, töten auch diese, verbrennen die Kinder? Ich lese die Theorien: dass die russische Armee auf diesen Krieg nicht vorbereitet gewesen sei, dass sie nicht ordentlich ausgerüstet und ernährt sei, dass es keine Führung gebe, keine Offiziere, die den 18jährigen Soldaten erklärten, was Kriegsverbrechen sind, dass die Grausamkeiten im Rausch und aus Angst geschähen, dass sie gezielt geschähen, weil Grausamkeit für das russische Militär das Wesen des Krieges sei und zwingend dazu gehöre.

Moralische Politik verlangen wir von den anderen

Wir wissen das, alles. Wir sagen uns, dass wir warmherzig zu den Fliehenden seien, und es stimmt. Wir sagen uns, dass wir alles täten, was möglich ist, und es stimmt nicht. Das, was nötig wäre, tun wir nicht. Russlands Reichtum ist nahezu monokausal: Es exportiert fossile Brennstoffe. Deutschland ist gewarnt worden. Die Regierungen Gerhard Schröders und Angela Merkels wussten von den Kriegen, der Demokratieverachtung, der Grausamkeit Russlands, und haben die Abhängigkeit doch herbeigeführt: 55 Prozent unseres Gases kamen aus Russland, bei Kriegsbeginn.

[Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn per Mail unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.Foto: Tobias Everke]

Moralische Politik verlangen wir von anderen, von China, von Russland. Den Text der Woche hat der amerikanische Ökonom Paul Krugman geschrieben, so endet er: „Vielleicht, vielleicht führt ja die Erkenntnis, dass die Weigerung, den Fluss russischen Gases abzusperren, Deutschland mitschuldig an diesem Massenmord macht, endlich dazu, echte Maßnahmen zu ergreifen. Aber solange dies nicht geschieht, wird Deutschland schändlicherweise das schwächste Glied in der Reaktion der demokratischen Welt auf die russische Aggression bleiben.“