Sängerfest mit politischen Misstönen: Saisonbeginn an der Mailänder Scala mit Verdis „Don Carlo“

Es gab schon Jahre, in denen die Ehrengäste in der Königsloge emphatischeren Beifall erhielten als die Künstler auf der Bühne. Für Verdis „Don Carlo“, mit dem das berühmteste Opernhaus Europas nun seine Spielzeit traditionell am Tag des heiligen Ambrosius eröffnete, hatte der viel bejubelte Staatspräsident Sergio Mattarella seine Teilnahme allerdings demonstrativ abgesagt.

Grund dafür war wohl das unerwünschte Erscheinen des Senatspräsidenten Ignazio La Russa, Mitglied der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia, sowie des stellvertretenden rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Matteo Salvini und des Kulturministers Gennaro Sangiuliano. Allen voran gegen La Russa, dessen politische Karriere in den frühen 1970er Jahren in der neofaschistischen Movimento Sociale Italiano begonnen hatte, erhoben sich im Saal Stimmen der Empörung, provoziert von dem Umstand, dass der sich nicht scheute, neben der 93-jährigen Senatorin Liliana Segre Platz zu nehmen, die als Kind den Holocaust knapp überlebte. 

Vielleicht erklärt dieses bizarre Vorspiel noch vor der Nationalhymne auch, warum das Publikum in Verdis längster Oper – zur Eröffnung in der vieraktigen italienischen Fassung – der Musik zeitweise sehr unkonzentriert folgt, vor allem nach der Rückkehr aus den Pausen. Noch in die verträumt-romantischen ersten Klänge des dritten Akts hinein klappern Türen, nehmen Zuschauer ihre Plätze ein, reden noch mit ihren Sitznachbarn. Vielleicht erreichen den Dirigenten Riccardo Chailly deshalb am Ende einige Buhrufe, weil er die Ruhe im Saal nicht einfordert.

Wie gewohnt gibt Chailly einen soliden musikalischen Leiter, der im steten Blickkontakt mit den Akteuren auf der Bühne große Präzision in Ensemble- und Chorszenen erzielt. Stets darauf bedacht, dass Sängerinnen und Sänger niemals gegen ein zu lautes Orchester ansingen müssen, ohne dass die Dramatik zu kurz käme. Allerdings hätte er dabei noch tiefer in die Musik vordringen dürfen, sublime Details sind seine Sache nicht. Elisabettas Abschied von ihrer Hofdame „Non pianger, mia compagna“ („Weine nicht, meine liebe Gefährtin“) hätte seitens des Orchesters noch zärtlicher, der düstere, von den Kontrabässen eingeleitete Auftritt des Großinquisitors im vierten Akt, in dem der Konflikt zwischen Kirche und Krone kulminiert, noch bedrohlicher tönen dürfen. 

Senatspräsident Ignazio La Russa, Mitglied einer rechtsextremen Partei (l) in der Ehrenloge, mit der Senatorin und Holocaust-Überlebenden Liliana Segre.
Senatspräsident Ignazio La Russa, Mitglied einer rechtsextremen Partei (l) in der Ehrenloge, mit der Senatorin und Holocaust-Überlebenden Liliana Segre.

© REUTERS/DANIELE MASCOLO

Trotz solcher Abstriche weckt der Abend Erinnerungen an lang vergangene, goldene Zeiten, dies vor allem dank der exquisiten Besetzung. An der Scala ist man seitens der Aufführungsgeschichte sehr verwöhnt, die Messlatte liegt hoch. Ihre einzige Elisabetta auf einer Bühne überhaupt sang Maria Calls 1954 hier, in späteren Jahren war in der Partie die unübertroffene Mirella Freni zu erleben. Die Titelpartie sangen alle berühmten Tenöre des vergangenen Jahrhunderts, Luciano Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras. Und der unvergessliche Nicolai Ghiaurov gab gleich mehrfach in den Jahren 1968 bis 77 einen höchst furchteinflößenden König Philipp.

Vor diesen Legenden muss sich das aktuelle Ensemble keineswegs verstecken. Anna Netrebko tritt würdig in die Fußstapfen der genialen Vorgängerinnen. In der geforderten Tiefe wie zum Beginn ihrer Arie „Tu che le vanità“ verströmt sie eine warme Glut wie ein Mezzo, in den Spitzen gelingen ihr Pianotöne von betörender Zartheit. Mit Francesco Meli hat sie einen Carlo an ihrer Seite, dessen schlank geführter, schmelzreicher Tenor aufs Trefflichste in den Duetten mit ihr harmoniert. Ein bisschen schade, dass Verdi für den Titelhelden keine größere Arie geschrieben hat, man hätte Meli gerne noch länger zugehört.

Ein weiterer Trumpf der Aufführung ist Elīna Garanca: Ihrer Eboli nimmt man es ab, dass sie hin- und hergerissen ist zwischen ihrer Liebe zum Infanten Carlo, ihrer Eifersucht auf die Königin und Schuldgefühlen wegen Verrats. Im Moment ihrer Reue hätte ihre kühle Stimme sich ein bisschen wärmer färben dürfen, aber die virtuose Einleitung in ihrer großen Szene „O don fatale“ meistert die Lettin, agil in allen Lagen, mit Bravour. Wie Leuchtraketen feuert sie ihre Spitzentöne ab.

Luca Salsi, sonst eher mit fiesen, tragischen Figuren wie Scarpia, Rigoletto oder Macbeth identifiziert, empfiehlt sich als Marquis Posa mit lyrischen Qualitäten, bester Legatokultur und genauer Ausdeutung eines jeden Wortes seines Texts.

Mit René Pape, der ursprünglich den König Philipp singen sollte, wäre die Traumbesetzung wohl komplett gewesen. Aber schon vor einem Monat teilte die Scala ohne Angabe von Gründen mit, an seiner Stelle werde Michele Pertusi die Partie übernehmen. Der war kurzfristig erkrankt, sang seine Rolle zwar, ließ sich aber für seine hörbare Indisposition entschuldigen.

Vor wüsten Eingriffen ins Libretto bleibt die Produktion bei alledem verschont. Der spanische Regisseur Lluís Pascal belässt es beim Drama um Freiheitskämpfe, eine verloren gegangenen Liebe, Vater- und Sohn-Konflikte und Streitigkeiten zwischen Krone und Kirche im 16. Jahrhundert. Franca Squarciapino hat prächtige Roben entworfen, auf Daniel Biancos sparsam ausgestatteter Bühne ist die mörderische Inquisition mit zahlreichen eisernen Klostergittern und Toren allgegenwärtig, die den Bühnenraum wechselweise verengen und weiten.

Aus der dunkel ausgeleuchteten Inszenierung ragt in der Szene vor dem Autodafé einzig ein goldener Altar heraus, der die Hierarchie plastisch aufzeigt: Ganz oben thront der Großinquisitor (profunder Bass: Jongmin Park), Königin und König stehen darunter. Vor ihren Augen werden der Reihe nach halbnackte, malträtierte, vermeintliche Ketzer in ein Loch geworfen. Was wohl der Auschwitzüberlenden Segre dabei durch den Kopf ging?

Streckenweise wirkt die Personenführung ein bisschen statisch, vielleicht erklärt das, warum das Regieteam starke Buhrufe entgegennehmen musste? Aber davon profitierte die Musik, sie hatte jederzeit die Vorfahrt. Dieser „Don Carlo“ ist ein Sängerfest. Und was für eines!