Durch Mark, Herz und Bein

Aufs Dirigieren hat Micky Maus sie gebracht, erzählt Elim Chan gerne. Als Kind war sie begeistert davon, wie die Maus im Disney-Klassiker „Fantasia“ mit Zauberhut und Zauberstab magische Dinge vollbringt, das wollte sie auch. In “Fantasia” dirigiert Micky Maus zur Musik von Dukas’ „Zauberlehrling“ etwa den Besen und lässt ihn für sich schuften. Seitdem hat die mittlerweile 34-Jährige Chan die Elemente schon häufig entfesselt – und behielt anders als der Zauberlehrling das Heft in der Hand.

Die gebürtige Hongkongerin ist seit 2019 Chefdirigentin des Antwerp Symphony Orchestra, außerdem seit 2018 Erste Gastdirigentin beim Royal Scottish National Orchestra. Als erste Frau gewann sie 2014 den renommierten Donatella Flick Wettbewerb, machte sich mit Werken von Rachmaninow, Schostakowitsch und Rimsky-Korsakov einen Namen und stand am Pult vieler großer Konzerthäuser, nachdem sie unter anderem bei Bernhard Haitink und Valery Gergiev gelernt hatte. Letzterer sagt häufiger mal Dirigate ab, Chan sprang für ihn ein.

Auch für ihr zweites Gastdirigat beim Deutschen Symphonie-Orchester ist Elim Chan eingesprungen, für den kurzfristig verhinderten Roger Norrington. Bei Dmitri Schostakowitschs Zehnter entwickeln das „Stalin“-Scherzo mit seinen Höllentänzen und die insistente D-S-C-H-Signatur im Finale unter ihrer Leitung eine ungeheure Wucht.

Da schreit einer den politischen Mächten sein rabiates, trotziges „Ich“ entgegen – zuletzt hatte das DSO zum 80. Jahrestag des größten Shoah-Massenmords von Babyn Yar in Kiew Schostakowitschs 13. gespielt. Und die zierliche Chan fordert mit weit ausholender, hochpräziser Gestik Unerbittlichkeit ein, Plastizität, kristalline Schockmomente. Als sei die Musik in sie gefahren, eine obsessive Energie, die sie sich anverwandelt und an die Musiker weitergibt. Die poetisch-grotesken Einwürfe der Klarinette und des Fagotts, die einsame Horn-Kantilene im dritten Satz entfalten um so mehr Wirkung: Ausdruck der inneren Emigration.

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Ähnlich hatte der Abend in der Philharmonie begonnen, mit „This Midnight Hour“ von 2015, einem zwölfminütigen Nachtstück der Britin Anna Clyne für großes Orchester. Ein wildes, düsteres Werk voller Wetterleuchten, jähen Donnerschlägen und Blitzen der Piccolo-Flöte, aber eben auch mit folkloristischen Anklängen und kurzen Walzer-Seligkeiten.

Der Aufruhr ist Elim Chans Element, auch das DSO hat keine Angst vor Katastrophen-Momenten

Dem versöhnlich-klassizistischen Ende im Choralduktus macht die große Trommel jedoch den Garaus, mit einem einzigen vernichtenden Schlag. Der Aufruhr ist Chans Element, und das DSO hat keine Scheu vor katastrophischen Effekten.

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Der große Kontrast folgt mit Mozarts A-Dur-Klavierkonzert KV 488 und Víkingur Ólafsson am Flügel. Es ist der erste Auftritt des isländischen Pianisten mit dem DSO. Beim himmlischen Adagio, einem der schönsten in der gesamten Solokonzert-Literatur, schmiegen Klavier und Orchester sich unendlich behutsam aneinander.

Ólafsson verzaubert mit sublimer Melancholie, während Elim Chan in den Ecksätzen jede falsche Sentimentalität mit schnellen Tempi unterbindet. Ein im Finalsatz fast ein wenig verstolperter Mozart: Hier brodelt es unter der vermeintlichen Idylle. Bleibt achtsam, lautet die Botschaft.

Ólafsson, Liebling des Publikums, gibt übrigens keine Solo-Zugabe, sondern spielt mit dem Orchester eine eigene Bearbeitung des Adagios aus Bachs 5. Violinsonate. Und, zweite Besonderheit des Abends, Elim Chan reicht ihren Blumenstrauß an den Solo-Hornisten weiter. Aber was heißt hier Besonderheit. Frauen am Pult, Blumen für die Männer, der Anblick wird langsam normal, nicht nur im Berliner Konzertbetrieb.