Was das Kino und Fußball gemeinsam haben

Manchmal reicht ein perfekter Moment, damit der Fußball dem Ideal des Kinos nahekommt. Wenn die Dramaturgie, die Bewegungsabläufe und das Timing stimmen, heutzutage von dutzenden Kameras im Stadion festgehalten, kann sich in einer einzigen Sekunde auf dem Platz ein Wunder vollziehen. Marco van Bastens Tor im EM-Finale 1988 zum Beispiel: Volley angenommen aus einem eigentlich unmöglichen Winkel, lupfte er den Ball fast von der Torauslinie über den russischen Keeper.

Unvergessen auch die „Hand Gottes“, mit der Diego Maradona zwei Jahre zuvor die Lederkugel ins Tor bugsiert hatte. (Für Argentinien ein „Wunder“, für Gegner England eine grobe Unsportlichkeit.) Marco van Basten sagte über sein EM-Tor kürzlich in der „SZ“: „Im Strafraum denkt man nicht.“

Der Satz trifft in gewisser Weise auch auf „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ zu, das Spielfilmdebüt des Georgiers Alexandre Koberidze, das einer eigenen Logik folgt. Für zweieinhalb Stunden – reguläre Spielzeit plus Verlängerung und Elfmeterschießen – darf man den Gedanken freien Lauf lassen. Dabei hilft es, für Märchen und Wunder empfänglich zu sein.

Zum Beispiel, wenn ein Buch drei Mal zu Boden fallen muss, bevor der Junge und das Mädchen verstehen, dass sie füreinander bestimmt sind. Oder an beseelte Dinge zu glauben wie Setzlinge, Regenrinnen und den Wind, das himmlische Kind, der Botschaften an den Ort ihrer Bestimmung trägt.

Der böse Blick der Überwachungskamera

Aber auch an die Macht des bösen Auges, in diesem Fall einer Überwachungskamera. Sie belegt Giorgi (Giorgi Ambroladzeist) und Lisa (Oliko Barbakadze) mit einem Fluch. Sie verlieben sich ineinander, erkennen sich fortan aber nicht mehr. So beginnt Koberidzes Märchen, dessen Zwischentitel in der hinreißend verschnörkelten georgischen Schrift für deutsche Augen wie Kalligraphien aus einer anderen Epoche aussehen.

Und weil eben auch das Kino ein Ort für Wunder sein kann, hilft der Regisseur mit einem kleinen Trick nach. Am Ende von „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ wird Argentinien Fußball- Weltmeister 2018, obwohl die Mannschaft um Lionel Messi damals im Achtelfinale gegen den späteren Weltmeister Frankreich ausschied.

Alexandre Koberidze, 1984 in Tiflis geboren, hat an der Dffb in Berlin studiert.Foto: Marius Land

Doch Messi hat einen besonderen Platz im Herzen von Alexandre Koberidze. Auch Giorgi ist Messi-Fan, mit einer Hobbymannschaft bolzt er im Trikot seines Helden. Und die Straßenkids malen sich vor dem Spiel den Namen ihres Idols auf die nackten Rücken. „Zum Glück hat Argentinien damals nicht die WM gewonnen“, lacht der Regisseur beim Videotelefonat. „So erzählt der Film auch ein kleines Fußballmärchen.“

Ein Gedicht für Zauberfuß Lionel Messi

Fußball ist für Koberidze, der an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (Dffb) studiert hat, vergleichbar mit den Dramen der griechischen Antike. Zauberfuß Lionel Messi bleibt vermutlich ewig unvollendet, weil er mit Argentinien wohl nicht mehr Weltmeister wird. Ein tragischer Held. Im deutschen Filmmagazin „Revolver“ hat Koberidze ihm kürzlich das Gedicht „Für Leo“ gewidmet.

„Man kann der Beste sein und trotzdem verlieren.“ Messi bringe Licht in unsere Dunkelheit. „Dieses hellbläulich weiße Licht findet man auch, wenn man die Bewegungen wiederholt, die du uns so oft beizubringen versuchst und den Kopf, die Augen zum Himmel richten.”

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Von dort oben kündigen sich Wunder an. „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ ist jedoch ganz irdisch in seiner Verzauberung: eine Liebesgeschichte im Gewand eines modernen Märchens. „Die Liebesgeschichte hatte ich zuerst“, erklärt Koberidze. „Die Stadt kam später erst hinzu.“ Kutaissi ist die drittgrößte Stadt Georgiens, auch ihre Geschichte reicht zurück in die griechische Heldenmythologie. „Durch Kutaissi fließt der Rioni, den die Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies befahren haben. So eine Geschichte hat man beim Drehen natürlich immer im Hinterkopf.“

Hinter jeder Ecke wartet ein Zauber

Doch die wahren Helden sind die Menschen aus Kutaissi, die Koberidze für den Film gefunden hat. Ein Jahr lebte er in der Stadt, zwei Wochen lang drehte er später auch während der WM. „Anfangs sollte der Film nur an ein paar Orten spielen, aber als wir die Menschen kennenlernten, wollten wir immer mehr Geschichten erzählen. So hat die Stadt das Buch beeinflusst.“ Im Film sieht Kutaissi wie ein verwunschener Ort aus, das goldene Sommerlicht trägt sein Übriges zur märchenhaften Stimmung bei.

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Ständig kreuzen sich die Wege von Giorgi und Lisa, jetzt gespielt von Giorgi Bochorishvili und Ani Karseladze. Für den Verwandlungszaubertrick, bittet der Regisseur, möge das Publikum kurz die Augen schließen. Sie arbeiten beide für einen alten Cafébetreiber (die georgische Filmlegende Vakhtang Fanchulidze), sind aber blind füreinander. Ein Filmemacherpärchen, gespielt von Koberidzes Eltern, sucht sechs Pärchen für einen Dokumentarfilm und spricht Giorgi und Lisa an. Widerwillig stimmen sie zu.

So vergehen die Tage. Die Stadt bereitet sich auf die WM vor, der Cafébesitzer baut eine Leinwand auf, Giorgi und Lisa machen eine Landpartie, Teenager ziehen in den lauen Sommernächten um die Häuser. Koberidze pflegt den Müßiggang, er folgt den Menschen im gemächlichen Tempo, völlig losgelöst. Denn er weiß, dass hinter jeder Ecke ein Zauber wartet.

Auch die Straßenhunde fiebern dem Ereignis entgegen, sie warten geduldig vor den Leinwänden. „Die Hunde sind irgendwann Teil des Films geworden“, meint Koberidze. Schon in seinem Dokumentarfilm „Lass den Sommer nie wieder kommen“ (2017) spielen Vierbeiner eine Rolle.

Zeit verdichtet zu einem Moment für die Ewigkeit

Er gibt zu, dass sich die Filme ähneln. „Am Anfang wollte ich etwas komplett anderes machen“, grinst er. „Aber anscheinend ist es nicht so leicht, seinen Mustern zu entkommen.“ Zusammen finden der Fußball, das Kino und die großen Emotionen in einer vierminütigen Zeitlupensequenz mit einer Gruppe Kinder auf dem Bolzplatz, zu Gianna Nanninis 90er-WM-Hymne „Un’ estate Italiana“. Die Zeit bleibt stehen, verdichtet sich zu einem Moment für die Ewigkeit. Es ist die Szene dieser Berlinale, reines Kino.

„Die Emotionen in den Körpern, in den Nahaufnahmen der Gesichter: Für mich war das ein Kontrapunkt zur Zurückhaltung der Liebesgeschichte. Die Kinder geben dem Film ein Gefühl von Hoffnung.“ Denn das Märchen ist trügerisch. „Wie kann ich meinen Kinder erklären, in dieser Zeit so einen Film zu machen?“ fragt der Erzähler, das Alter Ego des Regisseurs, einmal aus dem Off.

Die Menschen der Zukunft würden sich an diese Zeit als eine grausame Epoche erinnern. „Ohne den Erzähler“, erklärt Koberidze, „würde sich der Film falsch anfühlen, weil die Gefühlslage der Welt gerade eine ganz andere ist. Die Kinder geben dem Film eine Wahrheit zurück.“

Über das Kino sagt der Regisseur, es brauche Momente der Freiheit, in denen man etwas schafft, das nicht geplant war. „Auch ein Fußballspiel folgt einem Plan, aber die magischen Augenblicke passieren unerwartet.“ Wunder erfordern Geduld. „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ ist reich damit gesegnet.