Die Villa in Berlin : Eine jüdische Familiengeschichte 1924-1934

In diesem Kafka-Jubiläumsjahr wird der schöne Satz des Dichters, dass die Literatur eine Axt im Eis unserer Seele sein möge, wohl noch häufig zitiert werden. Aber manchmal trifft einen die Stelle aus einem Buch auch wie ein Blitzstrahl. Hell und erschütternd.

So lese man, was aus der Sicht einer jüdischen Familie in Berlin im Spätsommer 1929 erzählt wird: „Wir waren fassungslos. Morgens und abends sprachen wir davon, was jenseits des Meeres geschehen war. In Hebron hatten an einem Schabat Hunderte Araber mit Messern und Beilen die jüdischen Einwohner überfallen. Sie massakrierten Kinder vor den Augen ihrer Eltern, töteten Frauen und Männer. Die Straßen der Stadt waren blutgetränkt und voller Leichen.“

Das steht auf Seite 122/23 in Anat Feinbergs Buch „Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte 1924-1934“, erschienen im Wallstein Verlag – genau ein Jahr vor den Ereignissen des 7. Oktobers 2023. Bei der Passage trifft wohl der Satz zu, dass die Vergangenheit nie (ganz) vorbei ist. Und weil die in Tel Aviv geborene, in Heidelberg lebende und lehrende Literatur- und Theaterhistorikerin Anat Feinberg hier die Geschichte ihrer eigenen Großeltern während der Weimarer Republik bis hin zu ihrer Ausreise 1934 aus dem nazistisch gewordenen Berlin ins damals britisch verwaltete Mandatsgebiet Palästina erzählt, fußt diese gespenstische Erinnerung an das Massaker von Hebron auf der Realität.

Gewalttätige Spannungen

Tatsächlich hatten sich die gewalttätigen Spannungen zwischen Juden und Arabern 1929 verschärft. Es ging in Jerusalem um die beidseitigen Ansprüche auf die Klagemauer, und arabische Bauern waren aufgehetzt durch den Jerusalemer Mufti Mohammed Amin al-Husseini, einen berüchtigten Nationalisten und Antisemiten, der im Zweiten Weltkrieg auch einmal von Hitler in dessen Hauptquartier empfangen wurde.

Sie verwüsteten am Morgen des 24. August ’29 die Häuser und die Synagoge der kleinen jüdischen Minderheit im südlich von Jerusalem gelegenen Hebron, vergewaltigten, folterten, töteten mit Äxten und Messern 67 Juden, auch Kinder. Man zählte zudem acht tote Araber, und über 400 jüdische Bewohner (die Hälfte der Gemeinde) wurden durch arabische Nachbarn zum Teil unter eigener Lebensgefahr vor ihren Verfolgern gerettet. Am Ende der einwöchigen Unruhen nicht nur in Hebron soll es 116 arabische und 133 jüdische Todesopfer und fast 600 Verletzte gegeben haben.

Der Großmufti Amin el Husseini grüßt hier Soldaten der Waffen SS. 13 Januar 1944
Der Großmufti Amin el Husseini grüßt hier Soldaten der Waffen SS. 13 Januar 1944

© AFP/AFP ARCHIVES

Die Erwähnung jenes Massakers nimmt unmittelbar nur ein, zwei Seiten in Anat Feinbergs Buch ein. Doch Feinbergs von der – im folgenden Weltkrieg zerstörten – Familienvilla in Berlin-Schöneberg ausgehende Familienchronik, die aus der sinnlichen Wahrnehmung eines imaginierten Ziehsohns der Großeltern erzählt wird, gewinnt ihre Eindrücklichkeit eben durch die doppelte Bedrohung der Juden in Europa und dem für die zionistische Bewegung immer auch als „Erez Israel“ verstandenen Palästina.

Verlorene Existenz

Dabei geht es im Buch vor allem um das Leben einer bildungsbürgerlichen, religiös geprägten Familie in Deutschland, die erst allmählich erfährt, wie unsicher eine Existenz wird, die zunächst mit kultureller Anteilnahme an Berliner Gastspielen des Habimah-Theaters wie an Opernaufführungen des deutsch-romantischen „Freischütz“ gelebt wird.

Man sieht beispielsweise Filme mit der (1933 emigrierten) Elisabeth Bergner, gibt Hauskonzerte, liest Tolstoi und Goethe, fährt wie der große Klassiker zu Kuren nach Karlsbad und Marienbad, man fühlt sich fromm und frei, doch angesichts der aufziehenden Nazis immer mehr auch fremd. Bis es fast zu spät ist.

Ein Buch für unsere Tage. Weil die Vergangenheit eben nie ganz vorbei ist, und die Lektüre auch hundert Jahre nach der geschilderten Gewalt die Menetekel-Frage weckt: Hört es denn niemals auf?