Die Buchedition „Menschen und Orte“: Schmale Bändchen voller Leben
Ein Mensch. Ein Ort. Wie hängen sie zusammen? Was bleibt an einem Ort, in einem Haus, wenn der Mensch, der dort lebte und schrieb, längst verstorben ist? Sein Geist?
Angelika und Bernd Erhard Fischer suchen seit über zwanzig Jahren nach diesem Geist. Sie fangen ihn ein, in Worten und Bildern, sie fassen und feiern ihn in edlem Papier. Das Berliner Verlegerehepaar gestaltet die kleine, sehr feine Reihe „Menschen und Orte“: schmale Bändchen, jeweils 32 Seiten dünn, mit Umschlag aus farbigem Karton und aufgeklebtem Titeletikett und Schwarz-Weiß-Fotos, die dazu einladen, tief einzutauchen in die Geschichte eines Menschen, eines Orts.
Brecht und Weigel in Buckow, Georg Kolbe in Westend, Wilhelm Busch in Wiedensahl, Voltaire in Sanssouci und (neu) Amália Rodrigues in Lissabon: inzwischen sind es schon 40 Hefte. Man findet sie in Buchläden, aber auch an den beschriebenen Orten selbst: zum Beispiel im Baltikum, radelnd auf der Kurischen Nehrung, bei einem Besuch des Thomas-Mann-Hauses: Denn natürlich gibt es, bereits in fünfter Auflage, auch ein Bändchen „Thomas Mann in Nidden“.
Oder am Elberadweg in der Nähe von Dresden: Selbstverständlich ist „Karl May in Radebeul“ Teil des Programms. Und wie viel intensiver wird etwa ein Besuch im Haus des Goethe-Verlegers Göschen in Grimma, wenn man, zur Vor- oder Nachbereitung, „Göschen & Seume in Grimma“ dabei hat?
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Alles begann, als die Mauer fiel. Die Fotografin und der Grafiker bereisten das Umland und stießen im Süden Berlins auf ein heruntergekommenes Herrenhaus mit verkrautetem Park voller Skulpturen und Brücken: Blankensee, einst der Wohnort des Theaterautors und zu seiner Zeit viel gelesenen, heute vergessenen Schriftstellers Hermann Sudermann. Fasziniert von dem verwunschenen Ort begannen sie, seine Geschichte zu erforschen. „Wir hatten ein Loch in der Zeit entdeckt“, erzählt Bernd Erhard Fischer.
Angelika Fischer fotografierte den Park mit seinen italienisch anmutenden Elementen, Marmorbank, Rundtempel, Skulpturen, ihr Mann schrieb den Text dazu: Die Kombination aus den atmosphärisch dichten Schwarz-Weiß-Fotos mit der Erzählung des vergessenen Kulturorts traf in der Wendezeit einen Nerv. Der erste Band erschien im Arani-Verlag, aber schon bald machten sich die beiden mit der Idee selbstständig und gründeten die Edition A. B. Fischer. „Wir wollten die Lücke zwischen Faltblatt und dicker Biografie füllen“, sagt Bernd Erhard Fischer.
Wie es weiterging, beschreibt Fischer im Jubiläumsbuch „Die Menschen und die Orte“ (2023): Sie entdeckten ein interessantes Haus, einen Ort nach dem anderen, verhandelten mit Gedenkstättenleitern und Künstlerwitwen, bauten eine zweite Reihe auf: „Wegmarken“, inzwischen 20 Bände, mit Titeln wie „Das Teufelsmoor des Rainer Maria Rilke“ oder „Das Irland des Heinrich Böll“, neu: „Das Revier des Wolfgang Hilbig“. Hier steht weniger ein einzelnes Haus als eine ganze Gegend im Fokus.
Die Texte stammen von verschiedenen Autoren, die Fotos sind stets von Angelika Fischer und haben einen ganz eigenen, stimmungsvollen Charakter. Mit ihrer Hasselblad-Kamera wartet die Künstlerin manchmal stundenlang auf das richtige Licht, sucht die passende Perspektive, um, über die Fotos der Räume und Objekte, ein „indirektes Porträt“ des Menschen zu schaffen, der sie einst bewohnte und benutzte. Die Farbfotos, die dabei entstehen, wandelt sie nachträglich in Schwarz-Weiß um: „eine Reduktion auf das Wesentliche“, wie sie sagt.
Frauen haben oft keine eigenen Häuser gehabt.
Angelika Fischer, Fotografin
Die meisten „Menschen und Orte“-Bände handeln von männlichen Autoren, nur wenige Frauen sind dabei: Amália Rodrigues in Lissabon, die Geschwister Brontë in Haworth, Virginia Woolf in Rodmell, Anna Seghers in Adlershof, Marie Luise Kaschnitz in Bollschweil, Annette von Droste-Hülshoff im Rüschhaus, Tania Blixen in Rundstedlund.
„Frauen haben oft keine eigenen Häuser, keinen geordneten Nachlass gehabt, es gibt viel weniger Gedenkorte für Autorinnen“, sagt Angelika Fischer. Wo kein Ort, da kein „Menschen und Orte“-Band; der Geist der Frauen ist, im Wortsinne, schwerer zu ver-orten.
Längst ist neben den beiden genannten Reihen auch ein belletristisches Buchprogramm entstanden, mit vorwiegend literarischen Wiederentdeckungen vergessener Weltliteratur und literarischen Biografien. Ein Gesamtangebot, das viel Wertschätzung erfährt: Im März wird der Verlag auf der Leipziger Buchmesse mit dem Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung 2025 ausgezeichnet werden.
Hermione von Preuschen lebte in der Nähe
Angelika und Bernd Erhard Fischer selbst wohnen in Lichtenrade: An der schnurgeraden Straße reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus. Früher lief ganz in der Nähe die Mauer entlang, daher förderte der Berliner Senat junge Familien, die, wie die in Tempelhof geborenen Fischers, hierher ziehen wollten. Eine unspektakuläre Gegend, der nichts Verwunschenes oder Geheimnisvolles anhaftet.
Aber auch hier, in ihrer unmittelbaren Umgebung, haben die beiden einen Ort entdeckt, der Kulturgeschichte erzählt: In Lichtenrade lebte die exzentrische Schriftstellerin und Malerin Hermione von Preuschen (1854-1918). Dass ihr Wohnhaus, die Villa Tempio, 1996 abgerissen wurde, empört die Fischers bis heute.
Aus der Beschäftigung mit Hermione von Preuschen ist eine „poetische Biografie“ aus der Feder Bernd Erhard Fischers entstanden: „Hermione: Die Flucht ins Leben“ (2019). Auch die Weltreisende und Frauenrechtlerin war, ähnlich wie Hermann Sudermann in Blankensee, einst in aller Munde und ist heute vergessen. Ein Mensch, (k)ein Ort: aber eine Inspiration zum – in Preuschens Worten – „Allesauskosten dieses wundervollen, kurzen, ach, so kurzen Lebens“.