Die Berliner Philharmoniker in Baden-Baden: Frauenfeindlichkeit im Feenreich

Die Wände springen auf, dahinter liegt Wunderland. Jedes Ding hat mindestens zwei Seiten bei diesem Werk. Während des ersten Weltkriegs hatte Richard Strauss gemütlich in Garmisch seine „Frau ohne Schatten“ zu Ende komponiert – ein mit bildungsbürgerlichem Erbgut vollgestopftes Märchen für Erwachsene, in dem melodienselige Spukfiguren aus dem Geisterreich bei den Menschen auftauchen, um ihnen ihre Schatten zu stehlen. Was, frei nach Chamisso, bedeutet: ihre Seelen. Aber auch ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. 

Man kann dieses komplexe Machwerk also wahrhaftig nicht eskapistisch nennen. Vielmehr handelt es sich um eine Parabel, die den Zeitgeist abbildet und den Paradigmenwechsel kommentiert. Dreifach klopft das Schicksal an, mit Blechgedröhn, Pauke, Kontrabass. So geht das los. 

Schon beim ersten der Orchesterschläge schreckt ein Kind auf in seinem Bett. Eines von acht Betten, die in diesem Kloster-Schlafsaal für gefallene Mädchen stehen, welchen Regisseurin Lydia Steier für die Osterfestpiel-Premiere auf die Riesenbühne des Festspielhauses in Baden-Baden gestellt hat. Diese kindliche Kindsmutter irrt fortan im Nachthemd durch alle drei Akte der „Frau ohne Schatten“, um sich, stellvertretend für die Zuschauer, zu gruseln und zu wundern.

Steier liebt es, Statistenhilfsarbeiter einzusetzen, als roten Faden, der durch die Handlung führt. Die junge Schauspielerin Vivien Hartert spielt die Rolle mit Charme. Als Regieeinfall jedoch ist sie verzichtbar – der einzige Einfall übrigens an diesem Abend, von dem man das sagen kann.

Funkensprühende Fantasie

Lydia Steier ist eine Regisseurin mit außerordentlichem Musikverstand. Sie hat eine funkensprühende Fantasie und die außergewöhnliche Gabe, das Publikum zu belehren, ohne, dass es das merkt. Im Gegenteil: Man amüsiert sich prächtig bei ihr. Je komplizierter Stoff und Botschaft, um so leichter wird ihr Händchen, um so eleganter, schneller hagelt es Pointen. 

Die Nonne, die Nachtwache hält über die Schlafenden, entpuppt sich alsbald als Amme der Feen-Kaiserin und als heimliche Agentin des Geisterfürsten Keikobald. Sie verliert prompt ihre Haube. Zurechtgewiesen wird sie von der Statue des drachentötenden Erzengels Michael, die in einem Winkel des Saals prangte, jetzt aber vom Sockel steigt. Sie ist Keikobalds Bote, der den Tod des Kaisers, seines Schwiegersohns, fordert, weil der zu dumm sei, seiner Frau ein Kind zu machen und damit wiederum ihn, Keikobald, erzürnt.

Der Kaiser indes, eine Frohnatur, tanzt zylinder- und stockschwenkend einfach mitten durch die plötzlich sternenübersäten Wände herein: ein rundlicher Operettentenor, der ein flüssiges Stepptänzchen hinlegt, während er sich trompetenselig verströmt. Während sein Jagdfalke, dem die Aufgabe zufällt, beim Familienkrach im Feenreich das Menetekel zu spielen, als strassglitzerndes Girl auf der Schaukel einfliegt und die Kaiserin wie eine champagnerfarbene Puderquaste die Revuetreppe herunterschwebt. Und das sind nur die erste Szenen.

Ernst und surreal, bitter und blutig

Je länger der Abend, desto wilder werden die Karten gemischt. Es wird ernst und surreal, auch bitter und blutig. Schließlich geht es um Schuld und Sühne, Leben und Tod, nicht nur für den nach und nach versteinernden Kaiser, auch für die Menschenfamilie, zu der sich Kaiserin samt Amme aufmachen, um ihr den Schatten abzuhandeln.

Sie heißen zwar Färber und Färbersfrau, betreiben aber, in Steiers Lesart, einen schwungvollen Handel mit lebensechten Babypuppen, hergestellt in einer barbierosa gekachelten Fabrik. Und auch all die anderen Frauen in diesem frauenfeindlichen Plot, der nur diejenigen wertschätzt, die Kinder kriegen; auch all die Leihmütter, die gestohlenen Kinder, die verlorenen Schatten, sie alle haben am Ende nichts zu lachen. 

Szene mit Michaela Schuster als Amme· (links) und Miina-Liisa Värelä als Färberin
Szene mit Michaela Schuster als Amme· (links) und Miina-Liisa Värelä als Färberin
© dpa/Philipp von Ditfurth

Ein feiner, höhensicherer Heldentenor ist Clay Hilley, als Kaiser. Die Kaiserin wird von Elsa van den Heever mit brillant leuchtendem Sopran ausgestattet, selbst sagenhafte Intervallsprünge stemmt sie souverän. Miina Liisa Värelä als Färbersfrau bezaubert mit lyrischem Timbre und dramatischer Fülle, der Bariton Wolfgang Koch überrascht als Färber Barak mit Witz und Wucht. Einzig die Amme (Michaela Schuster) erlaubt sich, vielleicht rollenbedingt, einige unschöne Manierismen.

Aber auch die kleineren Rollen, etwa die Brüder des Barak, der Falke oder die Wächterstimmen sind hervorragend besetzt, auch die Stimmen der ungeborenen Kinder, die fantastisch agierenden Chöre und Kinderchöre. Und die Berliner Philharmoniker sind genau das Traumorchester, welches diese Oper braucht, wie keine andere: Überwältigend klangschön, berührend wahrhaftig, mit einem Reichtum an Farben sowie fein dosiertem Schmelz in den Soli, die ihresgleichen suchen. Und Kirill Petrenko führt alle Beteiligten so leicht, schnell und pointensicher durch den Abend, das man fast den Eindruck hat: Dieses schwere Stück lächelt. Ein Opernfest der Extraklasse.

2013 sind die Berliner Philharmoniker von Salzburg nach Baden-Baden umgezogen, 2026 ziehen sie sich wieder nach Salzburg zurück. Drei Jahre bleiben noch. Da kann viel passieren, nächstes Jahr zu Ostern, zum Beispiel, ist eine „Elektra“ geplant.

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