Bekenntnisse einer dunklen Träumerin: Clarice Lispectors Kolumnen
Man kann diese Zeitungskolumnen fast überall aufschlagen und betritt sofort die Welt von Clarice Lispector. Die kaum merkliche Unterströmung dieser Texte befördert einen wie die Erzählungen in wenigen Absätzen aus dem Gewöhnlichsten in dessen unheimliche Randbezirke: ein Feld, in dem wärmende Gewissheiten ihre Kontur verlieren und die eigene Schutzzone sich als vom bloßen Willen genährte Erfindung erweist.
Der Unterschied zur genuin literarischen Produktion besteht in erster Linie darin, dass hier ein Autorinnen-Ich spricht, dem man sich näher fühlen könnte als den Erzählinstanzen der Fiktionen. Dabei atmet es trotz seiner Bekenntnishaftigkeit etwas Unsicheres und Unzuverlässiges, eine literarische Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung, die ihr auch als Person zu eigen gewesen sein soll.
Und das soll die Leserinnen und Leser des „Jornal do Brasil“, in dem das Gros ihrer Kolumnen von August 1967 bis Ende 1973 erschien, Samstag für Samstag zu Zehntausenden verzaubert haben? Es hat. Für die meisten begründeten Clarice Lispectors Kolumnen sogar ihren Nimbus als bedeutendste brasilianische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts.
Heute undenkbare Freiheit
Die heute undenkbare Freiheit, die sie sich nahm und erst mit der Entlassung des damaligen Chefredakteurs, ihres Freundes Alberto Dines, endete, war nicht ihrem komplizierten Wesen allein geschuldet. Ihr Psychoanalytiker, den sie in jenen Jahren fast täglich aufsuchte, empfahl ihr am Ende, die Therapie abzubrechen. Ihr Fall koste ihn mehr Energie als alle anderen Patienten zusammen.
Diese neurotisch getränkte Freiheit rührte auch aus der Gattung der Crônicas. Ausgehend von Rubem Braga, den sie als Begründer preist, definierte deren Möglichkeiten von Grund auf und verlieh ihnen ein unverwechselbar weibliches Gepräge. Crônicas sind, mit Ablegern in Spanien und Lateinamerika, eine spezifisch portugiesisch-brasilianische Form der Kurzprosa, die sich dadurch auszeichnet, dass sie erstens in einem radikal subjektiven Plauderton auftritt, dabei zweitens komplexe Textstrategien anwendet und drittens dennoch Unterschlupf bei der Tages- oder Wochenpresse findet. Die Größten der brasilianischen Literatur, der Erzähler Machado de Assis und der Dichter Carlos Drummond de Andrade, haben ihren Teil dazu beigetragen.
Mit „Wofür ich mein Leben gebe“ liegt nun eine 300-seitige Auswahl aus den 2018 erschienenen „Todas as crônicas“ von 1946 bis in ihr Todesjahr 1977 vor. Auch im englischen Sprachraum sind unter dem Titel „Too Much of Life“ die „Complete Chronicles“ auf knapp 750 Seiten erschienen. Der Verzicht auf rund die Hälfte hat dem Verlag und Übersetzer Luis Ruby unter anderem einen Wust von Anmerkungen erspart, die viele Texte für heutige Leser erst zeit- und kulturgeschichtlich erschlossen hätten.
Begegnung mit Bossa-Nova-König Tom Jobim
Der Gewinn eines Best-of rückt allerdings auch das Mäandernde ihrer Themen in den Hintergrund. Immerhin enthält die deutsche Ausgabe die Begegnung mit dem Bossa-Nova-König Antônio Carlos Jobim, der sie so verehrte wie sie ihn, oder den Kolumnenwettstreit mit dem Sportjournalisten Armando Nogueira. Ihm zuliebe versuchte sie, über Fußball zu schreiben, während er sich im Gegenzug darauf einließ, über das „Leben“ zu schreiben.
Vom feuilletonistischen Kolumnismus deutscher Provenienz unterscheidet diese Crônicas der Verzicht auf unbedingte Witzischkeit. An jeder Absatzecke lauern Überraschungen, aber nichts ist auf Pointe genäht. Knapp unter der Oberfläche denken Lispectors zuweilen hingeschluderte Texte ganz tief zu sich hinab: „Ich bin ein Mensch, der ein Herz hat, das gelegentlich wahrnimmt, ich bin ein Mensch, der sich in den Kopf gesetzt hat, eine Welt in Worte zu fassen, die sich nicht verstehen lässt, eine Welt, die sich nicht greifen lässt. Vor allem bin ich ein Mensch, dessen Herz vor federleichter Freude hüpft, wenn ihm in einem Satz gelingt, etwas über das Leben von Menschen oder Tieren zu sagen.“
Verblüffend sanft betreiben sie eine Art der Selbstzerfleischung, in der so große Vokabeln und Themen wie Liebe und Tod, Lebensmangel und Überdruss, Jugend und Alter unscheinbar wirken. Dafür verzichten sie weitgehend auf ein wiederkehrendes Personal. Selbst wo sie den Stoff in ihrer unmittelbaren Umgebung findet, bei den Hausbediensteten, den beiden Söhnen oder ihrer Liebe zu Tieren, wringt sie ihr Herz aus, immer verknüpft mit der Angst, zu viel von ihrem Innersten preiszugeben. Clarice Lispector machte aber weder eine Kunstfigur aus sich, noch wollte sie sich ihrem Publikum ganz geben. Sie berichtet aber freimütig von den schweren Verbrennungen, die sie 1966 erlitt, nachdem sie sich mit Zigarette und Schlafmitteln zu Bett gegangen war.
Dadaistischer Höhepunkt
Ein schönes Beispiel ihrer mäandernden Kunst ist „Der Brunch“, ein Text aus dem Jahr 1970, in dem sie zunächst davon träumt, ein Fest auszurichten, zu dem sie nur die Freundinnen und Freunde einladen würde, die ihr im Lauf der Jahre abhandengekommen sind. Er biegt unversehens zum Traum von einem Nachmittagstee ab, zu dem sie alle ihre ehemaligen Hausmädchen einladen würde. „Wenn ich um etwas bitte, muss ich immer so lachen“, sagt eine, „und dann denken die anderen, ich brauche es gar nicht.“ Und eine weitere: „Ich hätte gerne die drei Karnevalstage frei, madame, mir reicht’s mit dem Jungfrauenleben.“
Ich bin ein Mensch, der sich in den Kopf gesetzt hat, eine Welt in Worte zu fassen, die sich nicht verstehen lässt
Clarice Lispector
Zum Schluss des Defilees aber verheddern sich ihre Sprüche zu einem einzigen Potpourri mit dadaistischen Qualitäten: „Eure Lordschaft ist ein armes Luxuskind: Laub oder der erste Schnee. Die Würze von dem genießen, was man isst, nichts kaputt machen, was schön ist, nicht lachen, wenn es ans Bitten geht, und nie so tun, als ob man nichts gehört hätte, wenn jemand sagt: Das, Fräulein, ist der Regen aus Gold und aus Silber. Ja.“
Längere Texte erschienen mitunter in Fortsetzung, kürzere, bis hin zum Ein-Satz-Kuriosum, gebündelt. Der Kolumnencharakter im seinerzeit erstaunlich reich illustrierten Umfeld definierte sich allein durch den typografisch hervorgehobenen Namen der Autorin. Hin und wieder waren die Crônicas Vorarbeiten für Erzählungen, aber die Insistenz, mit der sie in ihnen immer wieder über das Schreiben nachdenkt, ist weniger Poetologie als ein Weg, sich immer wieder mit ihrem von Instinkt und Intuition gesteuertem, den Begriff der Intellektuellen von sich weisenden Bedürfnis nach dem Schreiben auseinanderzusetzen.
Sie sei, bekennt sie, „leider unfähig, Dinge auszuformulieren, ich kann eine Idee nicht vermitteln, bin unfähig, ,eine Idee in Worte zu kleiden‘. Was ich schreibe, zielt nicht auf die Vergangenheit eines Gedankens, es ist der Gedanke in der Gegenwart: Was an die Oberfläche kommt, bringt seine passenden und unersetzlichen Worte schon mit, oder es ist nicht vorhanden.“ Dieser Band zeigt es mit überbordendem Reichtum.