Das Dauerflüstern der Geister
Zitate, wohin das Auge fällt. Hier ein Motto von Cesare Pavese, dort ein Songtext von den Eels. Mittendrin eine alte Regel aus dem Bauernkalender, ein Spruch von Batman oder, im Ehrfurcht gebietenden Doppel, ein Satz von Samuel Beckett und ein Fetzen von Konrad Bayer, dem Oberdandy der Wiener Gruppe. Intellektuelle Leuchtraketen und Readymade-Blindgänger wie das Hinweisschild in einem amerikanischen Zug: „Attention! When the train is not stopped it will be constantly moving“. Copy&Paste-Gerümpel, entlegene Lesefrüchte und Allerweltsfundstücke, um die herum sich ein verschlungenes Erzählen entfaltet.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren und dort noch immer zu Hause, will mit all diesen Namen und Verweisen niemanden beeindrucken. Sie bilden das Dickicht, durch das er sich seinen Weg bahnt, dauerabgelenkt vom Vorgefundenen und zugleich unwillig, sich von all den Geistern, die auf ihn einflüstern, die eigene Stimme nehmen zu lassen – auch wenn sie eine Illusion sein mag.
Um das Feld einzugrenzen, in dem er sich bewegt, könnte man auf die Erzählung „Kleine braune Tiere“ zurückgreifen. Sie steht in dem 2011 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Band „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ und beginnt so: „Es gilt als eines der geheimen Meisterwerke unserer Epoche. Was ,Ulysses‘ für den modernen, ,Gravity’s Rainbow‘ für den postmodernen, ,Infinite Jest‘ für den postpostmodernen und schließlich ,Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth‘ für den Comic-Roman war, das ist ,Figures in a Landscape‘ für das bisher von den meisten ernsthaften Menschen belächelte Medium des Computerspiels.“
Vier reale Helden – und ein erfundener
Da hat man gleich vier seiner Helden: James Joyce, Thomas Pynchon, David Foster Wallace und den Zeichner Chris Ware. Der fünfte, der zu nennen wäre, ist eine Erfindung – außer man wollte sich auf Barry Englands Roman „Figures in a Landscape“ oder dessen Verfilmung durch Joseph Losey beziehen. Entscheidend ist, dass hier ein Computerspiel als geheimes Meisterwerk figuriert. Setz reißt die Schranken zwischen Hoch- und Populärkultur auf eine Weise ein, die nicht nur abwärtskompatibel ist, sondern auch seitwärts – und das multimedial.
Lange bevor er, von Ernst Jandl verführt, ein obsessiver Leser und ein noch obsessiverer Schreiber wurde, war er geradezu spielesüchtig, verlor sich in nächtelangen Internet-Chats und betäubte seine innere Leere mit Pornos. Dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ erzählte er einmal, dass ihn das langjährige Gaming zweifellos geprägt habe, allein dadurch, „dass ich vor meinem 16. Lebensjahr hunderttausendmal gestorben und wiederauferstanden bin; ich habe mich schon sehr mit den Avataren identifiziert. So eine repetitive Erfahrung des eigenen Sterbens konnte ein Jugendlicher in den Fünfzigerjahren nicht machen. Das hat schon was gemacht mit mir. Der Tod wurde irreal, umso größer war der Schock, als später tatsächlich Menschen starben, die ich gemocht und geliebt habe.“
Was das vielfach Gebrochene und oft Metafiktionale seiner Romane und Erzählungen ausmacht, stammt also nicht zuletzt aus jenem Distanz und Identifikation verbindenden Blick, den ihm seine Avatare eingaben. Man darf annehmen, dass er ohne die Erfahrung mit ihnen 2012 in dem Roman „Indigo“ vielleicht auch nie ein Double wie den steiermärkischen Mathematiklehrer Clemens Setz erschaffen hätte.
„Indigo“ ist eines der düstersten Werke in seiner mittlerweile über ein Dutzend Bücher unterschiedlichster Genres umfassenden Welt. Es begibt sich nach Helianau, in ein Internat für Kinder, die alle am unklassifizierbaren Indigo-Syndrom leiden und jeden mit Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel affizieren, der sich ihnen nähert. Bevor der fiktive Setz herausfinden kann, warum einzelne Kinder immer wieder erklärungslos abtransportiert werden, verliert er seinen Job.
Wuchern der Fragmente
Auch der wirkliche Setz hat einmal Mathematik auf Lehramt studiert, dann aber abgebrochen. Man kann dieses Sichherauswinden aus biografischen Sackgassen getrost als Grundzug seines im Fragmentarischen wuchernden Schreibens charakterisieren. Setz ist ein unerschrockener, um den großen Bogen wenig bekümmerter Schriftsteller, der gerne neu ansetzt.
Das heißt auch, dass seine Bücher dramaturgisch eher schwach, dafür atmosphärisch stark sind. Wer sich jemals an die tausend Seiten seines Romans „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (2015) gewagt hat, bekommt eine Ahnung, wie viele Untiefen man passieren muss, um den sexuellen Abenteuern einer jungen Altenpflegerin zu folgen, die im Heim zwischen die Fronten einer sadistischen Männerbeziehung gerät.
Setz ist kein überragender Stilist, aber ein großer Fantast. Er kreuzt den grellen Witz von Splattermotiven mit den Kriechströmen des Schauerromans. Und bei alledem behält er ein psychologisches Sensorium für seine Figuren. Sechs Jahre nach diesem für den Deutschen Buchpreis nominierten und dann mit dem Wilhelm-Raabe-Preis prämierten Roman erhält er nun mit dem Georg-Büchner-Preis die renommierteste, mit 50000 Euro dotierte Auszeichnung der deutschsprachigen Literaturwelt.
„Mit Clemens J. Setz“, heißt es in der Begründung, „zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Sprachkünstler aus, der immer wieder menschliche Grenzbereiche erkundet. Seine bisweilen verstörende Drastik sticht ins Herz unserer Gegenwart, weil sie einem zutiefst humanistischen Impuls folgt. Diese Menschenfreundlichkeit verbindet Clemens J. Setz mit einem enzyklopädischen Wissen und einem Reichtum der poetischen und sprachschöpferischen Imagination.“
Spöttische Kühle
Nichts wäre verkehrter, als in den ungeheuerlichen Vorgängen, denen sich Setz am liebsten widmet, etwas Menschenverachtendes zu erkennen. Seinen humanistischen Drang derart zu betonen, trifft jedoch weder die spöttische Kühle, mit der er seine Arrangements betrachtet, noch wird es seinen Zweifeln an der Zentralität des Humanen gerecht.
Setz begreift sein Interesse an den Formen Künstlicher Intelligenz nicht zu Unrecht als Korrektiv seiner künstlerischen Egozentrik. In „Bot“ (2018), einem „Gespräch ohne Autor“, lässt er die „ausgelagerte Seele“ eines über Jahre entstandenen, 1500 Seiten umfassenden Word-Dokuments mit Notizbuchcharakter als Volltext auf bestimmte Stichworte hin durchsuchen.
So gesellen sich zu den sorgfältig formulierten Fragen seiner Lektorin Angelika Klammer, gleichsam aleatorische Antworten. Setz ließ sich dafür von einem mittlerweile in zweiter Generation existierenden Roboter inspirieren, der posthum das Werk des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick durchkämmte.
Ein deutlich stärker konstruktives als selbstexpressives Interesse an Sprache prägt auch sein jüngstes Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ – nicht ohne Ersteres für Letzteres zu nutzen. Lustvoll stürzt sich Setz in die Geschichte von Plan- und Kunstsprachen, wie sie sich zwischen Esperanto und dem Valyrischen, das der Linguist David J. Peterson für die Fernsehserie „Game of Thrones“ entwickelte, nie durchsetzen konnten. Zugleich trotzt er Übersetzungsmaschinen ein Stück Poesie ab, das sich naturgemäß eher in Nonsense-Gefilden bewegt.
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Das klingt alles technischer, als es ist – und vor allem: futuristischer. Denn die Sprachzerlegung, die Setz hier betreibt, hat ihre Wurzeln in der Materialartistik der Wiener Gruppe. Was der genialische Mundartdichter H.C. Artmann, zu dessen 100. Geburtstag gerade ein Insel-Bändchen mit einem Nachwort von Setz erschien, in den 1950er Jahren begründete, ist so traditionsreich wie der böse Blick, den er in seiner Prosa übt.
Beides zeugt von einem spezifisch österreichischen Temperament, ohne das der deutschsprachigen Literatur eine wichtige Blutzufuhr fehlen würde. Nach dem letztjährigen Büchner-Preis an die jede Zuordnung sprengende ostdeutsche Dichterin Elke Erb konnte man nur rätseln, wen die Deutsche Akademie nun aus dem Hut zaubern würde. In Clemens J. Setz hat sie einen würdigen, einerseits populäreren, andererseits nicht minder radikalen Nachfolger gefunden.