Verknallt in ein Monster
Lily hat Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS. Abelard leidet an Asperger-Autismus. Bei solchen Klappentextinfos tritt man innerlich erstmal drei Schritte zurück. Müssen es in Laura Creedles Roman „Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ gleich zwei Psycho-Macken sein? Ja, müssen.
Die vorsichtige Annäherung zwischen zweien, die von der meist liebevollen, manchmal feindlichen Außenwelt als Freaks wahrgenommen werden, ist aufregend und berührend geschrieben.
Schulschwänzerin und Ordnungsfanatiker
Lily und Abelard sind nicht nur mit den Alltagsanforderungen über Kreuz, wie 16-jährige Pubertisten das sind. Die impulsive Schulschwänzerin und der kontaktscheue Strukturfanatiker sind gewissermaßen gegensätzliche Pole. Ähnlich wie in Rainbow Rowells Jugendromanhit „Eleanor & Park“ von 2013, den die fiktive Lily wie jedes reale Mädchen ihres Alters verschlungen hat, wachsen die Außenseiter aneinander.
Dass Autorin Laura Creedle selbst einst die Diagnose ADHS und Legasthenie gestellt bekam, hat die differenzierte Charakterzeichnung von Lily offensichtlich befruchtet.
Die amerikanisch forsche Ich-Erzählerin beobachtet scharf, auch sich selbst, zieht witzige Verbindungen zu Büchern, Filmen und Fernsehserien und pariert ihre Überforderung und unabsichtliche Zerstörungswut mit selbstironischem Sarkasmus.
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„Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ ist das Gegenteil eines selbstmitleidigen Jammerbuchs. Trotz ernsthaft beleuchteter, existenzieller Themen wie dem Sinn und Unsinn von Medikamententherapien und der viel Raum einnehmenden Frage, ob sich Lily für oder gegen eine Hirn-OP entscheiden soll, bei der man ihr einen Neurostimulator implantieren will, der ihre überschießenden Impulse kontrollieren soll.
Alles beginnt mit einem Knall. Rumms, da ist die Schiebetür kaputt, die die Klassenräume von Lily und Abelard in einer Highschool in Austin, Texas trennt. Abelard hat an der einen Seite neugierig an der Klinke gerüttelt, Lily auf anderen dagegen gehalten. Und schon treffen sich beide auf der Strafbank vor dem Direktorenzimmer.
Beim Betrachten der Narbe an Abelards Stirn fällt Lily wieder ein, dass sie ihm Jahre zuvor ihre Brotdose an den Kopf geworfen hat. „Du siehst damit wie ein Pirat aus, leicht verrucht, weißt du?“, versucht sie die Attacke von damals schön zu reden. Klappt. Es dauert nicht lange und die beiden entdecken beim Chatten ihre Vorliebe für Literatur.
Genauer gesagt für die tragische Liebesgeschichte von Abelard und Heloise, die in Briefform von einem Philosophielehrer und seiner Schülerin im Deutschlands des 12. Jahrhunderts erzählt. Ein Steinbruch gestelzter Zitate, die Lily und Abelard sich per Handy hin- und herschicken. Im wirklichen Leben fallen ihre Dates eine ganze Ecke komplizierter aus als im Chat, dafür prickelnd körperlich.
[Laura Creedle: Die Liebesbriefe von Abelard und Lily. Roman. Aus dem Amerikanischen von Barbara Lehner. dtv, München 2021, 352 S., 17,50 €. Ab 14 Jahre]
egen Lilys romantische Schmetterlinge im Bauch schneidet Laura Creedle deren Nöte als Schulversagerin, die zwar begabt ist, sich aber nicht in den Betrieb zu fügen vermag. „Der Unterricht kam mir vor wie ein nicht enden wollender, zäher Strom klebrig süßer Melasse, ein alptraumartiges Gewirr aus Luftpolsterfolie und sich in Zeitlupe entfaltendem, bösartigen Geflüster.“
Lily opponiert heftig gegen ihre Mutter
Und Lilys familiäre Konflikte, sprich den Dauerzeck mit ihrer alleinerziehenden Mutter. Die, ihre kleine Schwester Iris und Freundin Rosalind sind Lilys Stab und Stütze, nur hält das den Teenager trotzdem nicht vom Opponieren ab, was bei Lilys psychischer Konstitution heftig ausfallen kann.
Die nach jedem Ausbruch folgende Reue klingt dann so: „Denn ich rieb meine Mutter bis auf einen kleinen erschöpften Rest ihres früher mal so hoffnungsvollen Ichs auf.“
Dieser Sprung in der Schlüssel, die Monsterhaftigkeit, die sich Lily selbst attestiert, ist jedoch genau das, was Abelard anzieht. Die beiden erkennen einander und im anderen sich selbst. So schön ist erstes Liebesglück.