Seltene Einmütigkeit im Berliner Kulturbetrieb: Joe Chialo singt gemeinsam mit Jocelyn B. Smith
Es ist wohl einer der seltenen Feelgood-Momente für Joe Chialo in diesen Tagen, denn Berlins Kultursenator steht wegen der 130-Millionen-Euro-Einsparungen im Sperrfeuer der Kritik. Aber jetzt sitzt er zwischen der Berliner Soul-Sängerin Jocelyn B. Smith und einem Gitarristen, wiegt sich ein wenig hin und her und stimmt „Morning Has Broken“ an. Leise, mit samtiger Intonation, und bitte, singt alle mit. Im Nu ist die Stimme des Senators eingebettet in den ebenfalls behutsamen Gesang der übrigen Anwesenden, sanft umflort von den Verzierungen der Jazz-Queen. So viel Einmütigkeit ist im Berliner Kulturbetrieb derzeit selten zu hören.
Die menschliche Stimme ist das Instrument des Jahres 2025. Im Vorjahr, dem Jahr der Tuba, war zum Pressetermin des Landesmusikrats Instrumente-Schleppen angesagt. Diesmal zeichnet sich die Konferenz im Berliner Musikinstrumentenmuseum neben der Philharmonie durch Leichtigkeit aus. Denn sie wiegt nichts, so gut wie jeder trägt sie immerzu bei sich, sie lebt mit uns, rund um die Uhr, ist organisch, authentisch, unverwechselbar, kommunikationsfreudig: die eigene Stimme.
Sie macht den Menschen zum Künstler und zum sozialen Wesen, zum homo politicus. Und viele andere Instrumente wetteifern ihr nach, die Flöte, die Trompete, die Geige. Sogar die Orgel kennt das Register „Vox humana“, wie Rebecca Wolf als Direktorin des Berliner Instituts für Musikforschung erläutert.
Dies ist keine gewöhnliche Pressekonferenz. Gleich zu Beginn beweist der Beatbox-Künstler und Stimmakrobat Daniel Mandolini, wie mühelos der Mensch umgekehrt Instrumente nachahmen kann, von der Drum Machine bis zum Kontrabass. Und die komplette Klangwelt dazu, sei es das Brausen des Sturms, Straßenlärm oder Vogelgesang. Kehle, Gaumen, Lippen, Stimmbänder, Muskeln, Knorpel: Wer sie zu nutzen weiß, sie gar trainiert, kann flüstern und schreien, brummen, jubilieren und sich zu Koloraturen aufschwingen. Auch Tiere können singen, aber die kunstvoll alterierte, exaltierte Form des Sprechens beherrscht nur der Mensch.
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Jocelyn B. Smith firmiert an diesem Mittwochmittag als Botschafterin für das ungewöhnliche Instrument des Jahres und hypnotisiert die Runde mit poetisch-agitatorischen Worten („Change your voice and you change your life“). Mit „What’re we doing here“ sorgt sie zudem für einen veritablen Gospelmoment, schart die Medienvertreter:innen rund ums Klavier und animiert sie zum Backgroundgesang.
„Wer eine Stimme hat, kann singen.“ Gunter Kreutz, Musikwissenschaftler und Autor des Buchs „Warum Singen glücklich macht“, formuliert die radikalsten Thesen. Erstens: Deutschland ist das Land mit der höchsten Gesangs-Traumatisierung. Wer einmal zu hören bekommt, er oder sie sei unmusikalisch, den kann höchstens noch Karaoke retten, meist erst Jahrzehnte später.
Zweitens fordert er Chöre für alle, für die Kleinkinder in den Kitas, für Menschen mit Sprachstörungen, für Lungenkranke. Letzteres, erzählt Kreutz, existiert bereits in Oldenburg, dort, wo er lehrt. Und drittens ist die Stimme ein Querthema, mit dem sich nicht nur Kulturpolitiker befassen sollten, sondern auch deren Kollegen für Gesundheit, Bildung, Soziales.
Womit wir bei den Chören wären. Nicht jeder muss Chorgesang mögen, aber kollektives Singen hat nachweislich gesundheitsfördernde Wirkung. Den Gemeinschaftssinn stärkt es sowieso, in sich spaltenden Gesellschaften kostbarer denn je. Mehr als 2000 Vokalensembles und Chöre gibt es allein in Berlin, 330 davon sind im Chorverband organisiert, mit 11.500 Sängerinnen. Verbandspräsidentin Petra Merkel singt ein Loblied des Amateurgesangs wie der Ehrenamtler und wirbt wie zuvor bereits Landesmusikratspräsidentin Hella Dunger-Löper für den Berliner Chortreff von 3. bis 5. Oktober, den Höhepunkt im „Jahr der Stimme“.
Hand aufs Brustbein, ruhig ausatmen, dann tief inspirieren und „Summen Sie jetzt“. Berlins Landeskantorin Almut Stümke leitet die Anwesenden zum polyphonen „Mmmm“ an, auf dass wir erst in Einklang mit uns selbst und alsbald in einen harmonischen Vielklang mit den Sitznachbarn finden. Noch ein Feel-Good-Moment, der an die Kindheitserinnerung des Schlaflieds gemahnt. Auch das gehört zum „Jahr der Stimme“: Der Landesmusikrat sammelt Schlaflieder, die in Berliner Familien gesungen werden.