Wenn sich Klassikfans überschätzen: Schiefe Töne am Atlantik

Es sollte ein vorgezogener Sommerurlaub werden, in dem bezaubernd altmodischen Badeort Arcachon an der französischen Atlantikküste, westlich von Bordeaux. Leider spielte das Wetter nicht mit, und so erschien meiner Frau und mir ein Plakat verlockend, das ein „Concert Lyrique“ in der Kirche Saint Ferdinand am Hafen anpries.

Der Abend wurde von einer „Association Bellavoce“ ausgerichtet, zu Deutsch „schöne Stimme“. Allerdings war bei der Namensgebung eindeutig der Wunsch Vater des Gedankens gewesen: Es treten nämlich Laiensänger auf, Damen und Herren, die seit langem das zulässige Höchstalter für die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule überschritten haben, sich aber dennoch zum Operngesang berufen fühlen.

Du kannst das, du schaffst das!

Und darin aufs Fahrlässigste bestärkt werden durch eine örtliche Gesangslehrerin. Madame le Professeur hatte für die (kostenpflichtige!) Veranstaltung das Motto „Belcanto“ ausgegeben, und ihren Elevinnen und Eleven erfolgreich suggeriert: Du kannst das, du schaffst das, sei mutig! Du wächst mit den Herausforderungen!

In einer Mischung aus Euphorie und Selbstüberschätzung werden also die anspruchsvollsten Beispiele von Verdi, Bellini und Donizetti dargeboten, bis hin zu „Casta Diva“. Das Ergebnis ist ein Pressen und Drücken, Spitzentöne-Anpeilen und Über-Koloraturen-Hingeschleifen, bei dem unweigerlich Erinnerungen aufstiegen an die legendäre Florence Foster Jenkins, die als Primadonna der schiefen Töne in die Operngeschichte eingegangen ist.

Wir hatten uns sicherheitshalber einen Platz im Seitenschiff der Kirche ausgesucht, des leichten Fluchtwegs wegen. Doch unmittelbar vor Konzertbeginn tritt die Gesangslehrerin zu uns mit der Bitte, wir mögen uns doch auf die reservierten Plätze in der zweiten Reihe setzen, weil einige eingeladene Gäste nicht erschienen wären.

Und so sind wir gefangen im direkten tête-à-tête mit den Möchtegern-Diven. Bis zur Pause. 13 Arien lang. Während sich neben mir meine Frau in stummen Lachkrämpfen krümmt, reift in mir eine Erkenntnis: Jene Opernsnobs, die immer schon wissen, dass Sopranistin X nichts kann, Tenor Y erst recht nicht und dass früher sowieso alles besser war, sie alle sollten sich einmal so einer akustischen Herausforderung aussetzen. Um dann mit neuem Genuss und neuer Demut die Leistungen der Profis auf den großen Bühnen genießen zu können.