Klavierstunden bei Boris Yurievitsch in Saltivka
24. April 2022
Ich bin meinen Eltern für ihre Hartnäckigkeit dankbar – genauer gesagt, für ihren Wunsch, mir das Klavierspielen beizubringen. Damit waren sie äußerst konsequent. Bereits mit sechs Jahren musste ich die Musikschule besuchen, und zwar fünfmal pro Woche. Ich bewundere Kinder, die sowas aushalten, ich konnte es jedenfalls nicht. Als die Grundschule dazukam, erklärte ich meiner Mutter und meinem Vater, beides wäre mir zu viel. Mit der Musikschule war dann erstmal Schluss.
Aber meine Eltern ließen nicht locker, ein Jahr später haben sie eine private Musiklehrerin gefunden. Zu ihr musste ich nur dienstags und donnerstags, das war schon mal nicht schlecht. Sie glaubte an mich und mein Talent, obwohl ich, ehrlich gesagt, kein fleißiger Schüler war.
Saschas alte Schule hat ein Riesenloch in der Mitte
Als Kind fand ich Musik langweilig und die Stücke, die ich spielen musste, doof. Chopin, Tschaikowsky, Schubert – sie alle ließen mich kalt. Meine Lehrerin Bella Abramovna war zwar lieb, aber auch von ihr habe ich mich nach einigen Jahren verabschiedet. Trotzdem gab meine Mutter nicht auf. Die Suche nach dem perfekten Klavierlehrer ging weiter, bis sie auf Boris Yurievitsch stieß. Er war ganz anders als alle Pädagogen, die ich vor ihm kennen lernen durfte. Er wirkte entspannt, lachte viel, und was mich bei unserer ersten Stunde besonders beeindruckte: Er konnte auf dem Klavier alles spielen – auch ohne Noten. Ich meine, alles!
Ich war 13 und hatte mich in die Musik der Beatles und der Stones verliebt, mein Opa schenkte mir drei Beatles-Platten zum Geburtstag. Ich hörte sie rauf und runter und träumte, etwas davon auch auf dem Klavier spielen zu können, aber weder die Charkiwer Musikschulen noch Bella Abramovna hätten mir das anbieten können. Doch Boris Yurievitsch – Hornbrille, Schnurrbart, Grinsen – war bekannt dafür, seinen Schülern selbst Noten zu schreiben. Und dann brachte er uns bei, wie wir das auch machen können. Dafür war ich bereit, nach Saltivka zu fahren, obwohl es 40 Minuten Fahrt mit Umsteigen bedeutete. Aber das war es wert!
Saltivka ist ein Wohngebiet im Nordosten von Charkiw, wo ungefähr ein Drittel der Stadtbevölkerung lebt. Dort sah es fast genau so aus wie in Oleksiyivka, wo meine Eltern und ich wohnten – ein in den 1970ern entstandenes Plattenbaugebiet, neun- und sechzehnstöckige Häuser, viel Grünes dazwischen. Von der U-Bahn-Station Studentska bin ich zu Boris Yurievitsch immer zu Fuß gelaufen. Wenn ich Zeit hatte, bin ich in den Buchladen um die Ecke gegangen, dort gab es eine Abteilung mit Büchern aus zweiter Hand, wo ich immer wieder tolle alten Sachen gefunden habe.
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Mit 15 hatte ich eine Freundin, die zwei Blöcke weiter lebte. Manchmal bin ich nach dem Musikunterricht zu ihr gegangen. Sie hatte eine Platte von Shocking Blue, die mit dem blauen Cover, wir haben uns in ihrem Zimmer eingeschlossen, die Platte angemacht, die Lautstärke aufgedreht und geknutscht. Ich glaube, ihre Eltern waren nicht begeistert, vielleicht mochten sie mich nicht.
Auch Andriy und Sascha, die in den letzten zwei Schuljahren meine besten Freunde waren, kamen aus Saltivka. Beide gingen in die gleiche Schule, die sie uncool fanden, 1990 sind sie zu unserer Schule gewechselt.
In den letzten zwei Monaten sehe ich täglich Bilder von Saltivka, das seit dem ersten Kriegstag unter Dauerbeschuss ist. Sascha, der seit vielen Jahren in New York lebt, schickte mir neulich ein Foto von seiner Schule – mit einem Riesenloch in der Mitte. Ein Fotograf aus Kiew, dem ich im Instagram folge, war letzte Woche dort, und behauptet, dass dieses Wohngebiet eine kleinere Version von Mariupol innerhalb von Charkiw geworden ist.
Ein anderer alter Freund, der dort lebt und den Keller seines privaten Hauses in einen Schutzbunker für mehrere Familien aus der Nachbarschaft umgerüstet hat, schrieb mir heute im WhatsApp auf meine Frage, wie es gerade in der Nähe vom U-Bahnhof Studentska aussieht: „Eigentlich gibt es den Norden von Saltivka so gut wie gar nicht mehr.“
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