Der ukrainische Autor Serhij Zhadan: Ein Friedenspreisträger zieht in den Krieg
Bis ich 2005 Serhij Zhadans ersten Roman dank seines auffälligen Covers und Titels in einer Charkiwer Buchhandlung entdeckte, kannte ich die ukrainische Literatur nur aus dem öden spätsowjetischen Schulprogramm – eine Auswahl ideologisch korrekter, aber meist schrecklich langweiliger Werke. Doch „Depeche Mode“, in modernem Ukrainisch geschrieben, war eine echte Offenbarung.
Die Geschichte dreier Jugendlicher aus Charkiw, die ihren Kumpel finden müssen, damit er rechtzeitig zur Beerdigung seines Stiefvaters erscheint – das war das eindrucksvollste Porträt der wilden 1990er-Jahre in meiner Heimat, das ich je gelesen habe. In Zhadan fand ich endlich die Stimme meiner Generation, auf die ich lange wartete: Kerouac und Ginsberg unserer Zeit, gewürzt mit einer Prise Hemingway und Bukowski.
2010 kontaktierte mich Igor Nescheret, ein wilder Avantgardist aus Charkiw, der, als wir uns in den 1990ern trafen, dadaistische Texte schrieb und auf Partys Omas Schellackplatten auflegte. Jahrelang hatte ich nichts von ihm gehört – und auf einmal war er da, in Berlin, auf dem Heimweg von irgendeinem Hippie-Festival in Italien. Er erwähnte unter anderem, er sei am Vortag bei Serhij Zhadan gewesen. Die Stimme meiner Generation, so Igor, sei eben nicht in Charkiw, sondern in einer Künstlerresidenz in Berlin. Er fragte mich, ob er uns einander vorstellen solle.
Eine klare bürgerliche Haltung
Ich nahm all meinen Mut zusammen und wählte die Telefonnummer, die Nescheret mir hinterlassen hatte, stellte mich etwas nervös vor. Ich fühlte eine große Erleichterung, als ich hörte, Serhij kenne meine Musik. Schon am nächsten Tag sprachen wir in meiner Küche vier Stunden lang über Literatur, Musik, Charkiw und unsere vielen Bekannten.
Es war erfrischend, jemanden zu treffen, der mit der gleichen Begeisterung über The Stooges, Ramones und die ukrainischen Autoren sprach, die Anfang der 1930er-Jahre im Literaturhaus Slowo in Charkiw lebten.
Soweit ich weiß, hatte Zhadan nie Ambitionen, Berufspolitiker zu werden. Aber er hatte immer eine klare bürgerliche Haltung und scheute sich nicht, diese auch deutlich zu machen. Er engagierte sich aktiv während der Orangenen Revolution und spielte in den Maidan-Monaten eine wichtige Rolle, nicht nur als Redner bei den täglichen Kundgebungen im Zentrum Charkiws, sondern auch als deren Organisator.
Im Januar 2014 war ich für zehn Tage in Charkiw und fror oft mit anderen vor dem Schewtschenko-Denkmal, wo sich die Demonstranten versammelten. Und jedes Mal, wenn ich dort ankam, war Serhij schon da. Er blieb, als ich gehen musste, und war auch an allen anderen Abenden dabei.
Unsere musikalische Zusammenarbeit begann gleich, nachdem wir uns kennenlernten. Immer wenn sich unsere Wege in derselben Stadt kreuzten, standen Zhadan i Sobaky und ich gemeinsam auf der Bühne. 2016 haben wir beschlossen, ein gemeinsames Album aufzunehmen. Wenn ich heute die Liedtexte von damals ansehe, merke ich, wie viel in den Songs schon über diesen Krieg steht. Manches wurde festgehalten, manches vorausgesagt.
Über den zerlumpten Flüchtlingen leuchtet ein gelber Mond. Nachts riechen die Bahnhöfe nach Tod und Zimt.
Songtext von Serhij Zhadan
„Über den zerlumpten Flüchtlingen leuchtet ein gelber Mond. Nachts riechen die Bahnhöfe nach Tod und Zimt. Los, wir steigen in die Güterwaggons ein. Verlorene Seelen … Verzerrte Gesichter … Wohin bringt uns unsere Eisenbahn?“
Literatur in Kriegszeiten ist unmöglich
Nach der Veröffentlichung des Albums „Psy“ im Sommer 2016 machten wir gemeinsam eine kurze Tour durch den Donbass. Für mich war es die erste Reise in diesen Teil meiner ukrainischen Heimat.
Serhij hingegen, der aus Starobilsk stammt, war schon oft hierhin gekommen, um zu helfen und zu unterstützen, wo und wie er konnte; mal mit Auftritten, mal mit Spenden: Bücher für Bibliotheken, Laptops und Sportgeräte für Schulen. Er organisierte Festivals und war für einige Wochen Moderator eines kleinen Radiosenders unweit des besetzten Donezk.
Wir spielten damals in Mariupol, Kostyantynivka und Bachmut, für Zivilisten und auch für Soldaten. Auf unserer Setlist standen unter anderem zwei etwas früher aufgenommene Songs: „Ich bleibe hier, das ist mein Land“ und „Kämpfe für sie, sterbe für sie“.
An diese beiden Lieder musste ich vergangenen Freitag denken, als ich einen Anruf von einem deutschen Radiosender erhielt: „Herr Gurzhy, Ihr Kollege Serhij Zhadan geht zur Armee, wir würden Sie gerne dazu interviewen”, sagte die freundliche Stimme. „Ein Friedenspreisträger zieht in den Krieg, das ist unerhört! Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfuhren?“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Gedanken gut formulieren konnte. Ich sagte sinngemäß, dass ich diese Vorstellung meiner deutschen Mitbürger*innen von einem preisgekrönten Autor, der mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse eines Literaturhauses sein Leben genießt, ganz amüsant fände.
Aber mit der ukrainischen Realität hat das nichts zu tun. Wenn du heute in der Ukraine lebst, ist egal, ob du Taxifahrer, Englischlehrer oder Dichter bist. In erster Linie bist du ein Bürger eines Landes, das sich im Krieg befindet. Bist du ein Mann zwischen 18 und 60 Jahren, bist du wehrpflichtig.
Und wenn du heute in der Ukraine lebst, ist es egal, ob du in einem Einfamilienhaus in Lwiw oder in einer Einzimmerwohnung im Charkiwer Plattenbau wohnst. Man ist nirgendwo vor dem Krieg sicher.
Serhijs Entscheidung habe mich nicht überrascht, sagte ich den Hörer:innen. Aber ich sei unendlich traurig, dass es so weit gekommen ist. Es sei unerträglich, mit ansehen zu müssen, wie sich Waffenlieferungen verzögern, während Charkiw täglich brutal unter Beschuss genommen wird, wollte ich noch sagen. Aber dann knisterte es in der Leitung, und das Gespräch brach ab.