Allein mit dem Beben, den Explosionen, den Scharfschützen: „Da waren Tage“ von Luna Ali
Am 15. März ist die syrische Revolution nun 13 Jahre her. Man brauche gewissen Abstand, um das Thema zu behandeln, sagt Luna Ali, Autorin von „Da waren Tage“. Sie sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg, ihrer Wahlheimat. Ali ist 1993 in Syrien geboren und in Hannover aufgewachsen. Der Protagonist ihres Debütromans, Aras, durchlebt in jedem Kapitel den Jahrestag der Revolution. Pro Kapitel ein Tag in einem neuen Jahr.
Aras ist Jurastudent in einer durchschnittlichen deutschen Stadt, die vermutlich mit H anfängt und mit annover endet. Er geht in die Bibliothek zum Lernen, schreibt die Staatsexamensprüfung und zieht mit seiner Freundin zusammen. Geboren ist er in Syrien, sein Vater verschwand, weil er politisch aktiv war, und seine Mutter floh mit ihren zwei Kindern nach Deutschland.
Aras bekommt die Revolution am 15. März 2011 nur aus der Ferne mit. Zunächst hauptsächlich via Handy und Nachrichtenwebsites, doch dann kommt sie immer näher. So muss er für Unterlagen für den Familiennachzug stundenlang in der Ausländerbehörde warten. Dort wird ihm schlagartig klar, dass das Gesetz immer von Menschen ausgelegt wird. Es bietet einen Ermessensspielraum: „Vorerst war Bürokratie nur eine andere Form von Russisch Roulette. Das Spiel, das diese Behörde spielte, hieß: ‘Ene, mene muh, du wirst gerettet und nicht du.’”
Recht und Unrecht
Dass der Romanprotagonist Jura studiert, ist eine Setzung. Im Krieg in Syrien geht es um Recht und Unrecht. „Es begehren Menschen auf, um Rechte zu erhalten. Und diese werden ihnen nicht gegeben. Um an ein Recht zu kommen, müssen sie fliehen. In dem Staat, in dem sie leben, sind sie rechtlos“, sagt Ali im Gespräch.
Das Spiel, das diese Behörde spielte, hieß: ‘Ene, mene muh, du wirst gerettet und nicht du.
Protagonist Aras über den rechtlichen Ermessensspielraum der Ausländerbehörde
„Dass Assad am 30. März 2020 ein Anti-Folter-Gesetz verabschiedet hat, ist an Absurdität nicht zu überbieten. Folter ist kein Aprilscherz. Und als Assads Vater gestorben ist, wurde in Syrien das Präsidenten-Antrittsalter von 40 auf 34 heruntergesetzt.“ Der Gesetzesschrift werde Macht anerkannt, obwohl sie in sehr vielen anderen Momenten gebrochen werde. All diese Fragen von Staatsbürgerschaft, internationalem Recht und Rechtsbruch beschäftigen auch Aras in „Da waren Tage“.
Luna Alis Roman ist poetisch und formal innovativ. Sie verwendet ein bildreiches Vokabular, Arabizi und Listenformate. Dadurch fordert Ali die Leser*innenschaft zur Kooperation auf. Erst durch eigene Recherchen ergeben die Puzzlestücke ein Bild. Dann werden die zusammengewürfelten Zahlen zu Nummern von UN-Resolutionen; oder eine Liste mit zusammengewürfelten Namen verwandelt sich in eine Riege aus Autor*innen und Dissident*innen.
Politisches Schreiben
Die Autorin hat Zweifel an der Einflussnahme von Literatur auf die Politik, dennoch ist ihr Roman natürlich politisch: „Lebensrealität ist die Basis für Politik. Doch wie konstruiert sie sich?“ Viele Menschen hätten vergessen, dass der Krieg in Syrien mit einer unterdrückten Revolution begann. „Momentan muss man die Revolution endgültig für gescheitert erklären, und die Erinnerung im gesellschaftlichen Diskurs, zumindest in Deutschland, verblasst.“ Auf diese Tatsache jedoch möchte sie wieder aufmerksam machen, die Revolution wieder ins Zentrum rücken. Denn Assads Regime werde normalisiert: Syrien wurde kürzlich wieder in die Arabische Liga aufgenommen.
Die Revolution prägt fortan das Leben von Aras. Sie kommt ihm immer näher. 2015 ist er Teilnehmer einer deutschen Talkshow zum Thema „Syrien“. Er redet sich um Kopf und Kragen, doch realisiert: „Hier würde keine Fernsehgeschichte geschrieben werden. Hier würde niemand ‘und deswegen mache ich jetzt diesen Tisch kaputt’ rufen und mit einer Axt den Tisch vor ihnen kaputt machen. Hier würde auch niemand ‘Halten Sie die Klappe!’ schreien und daraufhin das Studio auseinandernehmen, wie es Shaker al-Johari und Mohammed al-Jayousi in Jordanien getan hatten.” Mit dem Satz bezieht sich Aras auf eine echte Talkshow zweier Journalisten, deren Debatte über den Syrienkrieg live eskalierte.
„Die Recherche war nicht einfach“, gibt Luna Ali zu. Für das Kapitel habe sie sich sehr viele Talkshows angesehen, in denen teils Positionen vertreten wurden, die klar auf Regime-Propaganda beruhten. Oder die Sprecher*innen vertraten die Meinung, dass Assad der einzige wäre, der noch die Machtübernahme des IS verhindere.
Realität und Fiktion
Bei Luna Ali mischen sich Fiktion und Realität auf mehreren Ebenen. „Was Aras und mich vereint, ist die Ausgangslage: Wir sind in Syrien geboren und hier in Deutschland aufgewachsen“, sagt sie. Aber es fallen noch weitere Überschneidungen zwischen ihr und ihrem Protagonisten auf. Luna Ali wuchs in Hannover auf, ihr Studium wurde von einer Parteistiftung gefördert und auch Aras besucht Auswahlseminare einer Parteistiftung.
Auch die Ereignisse beruhen auf wahren Begebenheiten. Die Gewalt des Assad-Regimes muss man sich nicht ausdenken, wozu auch, wenn sie wirklich geschah. So zum Beispiel diese bekannte Geschichte: Zaynab al-Hosni aus Homs, Syrien, war im Juli 2011 verschwunden und im September von ihren Eltern in einem Leichenhaus wiedergefunden worden, geköpft, ohne Arme, mit abgezogener Haut.
Am 4. Oktober 2011 trat im syrischen Staatsfernsehen eine Frau auf, die vorgab, Zaynab al-Hosni zu sein. Sie sagte, sie sei von zu Hause weggelaufen, weil ihre Brüder und ihr Vater sie misshandelt hätten. Oppositionelle waren der Meinung, die Frau sei eine Doppelgängerin gewesen.
Ali schreibt: „Obwohl sie aus der Stadt kam und es üblich war, den harten Buchstaben Qaf nicht auszusprechen, tat sie es im Interview, immer wieder, die Luftzufuhr verschlossen durch den hinteren Teil ihrer Zunge, unterbrochen wurde die Atemluft dabei, ganz kurz, die Zunge berührte das Gaumenzäpfchen, als würde sie jemand würgen.“ Für die Mutter des Protagonisten sei das der Beweis, dass das Mädchen gezwungen worden war, diese Rolle zu spielen: „Aus Angst passt sie sich dem Dialekt der Mächtigen an.“
Die Geschichte al-Hosnis illustriert eine weitere Ebene von Vermischung zwischen Realität und Fiktion. Die syrische Regime-Propagandamaschine lief und läuft so geschmiert, dass man diese nicht mehr von der Wahrheit unterscheiden kann. Sogar al-Hosnis Mutter ist sich unsicher, wen sie begraben habe, schreibt Ali.
Der fremde Schmerz wird zum eigenen
So geht es auch Aras. Sein mentaler Zustand verschlechtert sich, er ist nicht mehr in der Lage, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. „Aufgrund der Ereignisse in Syrien fängt er an, sich vorzustellen, dass das, was in Syrien passiert, hier passieren würde“, erklärt Ali.
Aras verspürt einen Schmerz, den er nicht erlebt hat, aber dessen Zeuge er ist. Es tut sich eine Lücke auf zwischen seinem alltäglichen Leben und dem Wissen um die Gräuel in Syrien. „Er wusste, dass er in einer doppelten Realität gefangen war. Er war allein mit dem Beben, mit den Explosionen, mit den Scharfschützen, den Folterungen, den Gefängnissen, den Entführungen, die Anrufe, das Gefühl jemand sei in der Wohnung gewesen in ihrer Abwesenheit“. Doch es geht Luna Ali nicht um Traumata. Sondern um die Auseinandersetzung mit dem Schmerz. Und dieser ist vermutlich ebenso wenig ausgedacht wie viele andere Details des Buchs.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es gar nicht schlimmer kommen kann. Und dann kommt es doch schlimmer.
Luna Ali über den Verlauf der syrischen Revolution
Ali schildert, wie sie sich zeitlebens in Deutschland verortete und nie darüber nachdachte, nach Syrien zurückzugehen. Doch die Revolution habe eine Hoffnung ausgelöst: „Wenn sich vor Ort etwas ändern würde, könnte man vielleicht doch dort hin, vielleicht wäre es sogar sehr schön. Wenn man sich einmal dieser Hoffnung hingibt, lässt man sie nur schwer wieder los.“
Sie macht sich Sorgen um ihre Zukunft: „Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es gar nicht schlimmer kommen kann. Und dann kommt es doch schlimmer.“ Wenn man bedenke, dass die AfD Abschiebungspläne schmiede, werde ihr schmerzlich bewusst, dass sie nirgendwo hingehen könne.
Im Roman schafft Aras es, Hoffnung aus dem Handeln zu schöpfen. Er fährt bei einer ehrenamtlichen Seenotrettungsmission mit. „Er hatte sie überwunden, seine Angst, sie führte keine Diktatur mehr, sie war vielleicht noch im Parlament seines Körpers, aber sie herrschte nicht mehr uneingeschränkt.” Auch Luna Ali war 2021 bei einer Sea-Watch Mission dabei.