Erst Schweiger, dann Lindemann: Hilft ein Kodex gegen Machtmissbrauch in der Kulturbranche?
Julian Reichelt und der „Boys Club“ bei Springer, Til Schweiger, Till Lindemann, jetzt wieder die Causa Gorki Theater: Die Meldungen über Machtmissbrauch in der Kultur- und Medienwelt reißen nicht ab, begleitet von Beschreibungen eines Klimas der Angst samt Schweigekartell. Wer sich traut, sich zu beschweren, tut es anonym, bis heute. Warum ändert sich das nicht im demokratischen Deutschland, trotz aller Sensibilisierung seit Weinstein und MeToo?
Oder ist es andersherum: dass die Meldungen sich gerade wegen der erhöhten Wachsamkeit häufen? Und wegen der inzwischen geläufigen Erkenntnis, dass sich in den Sphären des Wahren, Guten, Schönen keine moralisch besseren Menschen tummeln als in der profanen übrigen Welt?
Manche strukturellen Probleme werden inzwischen klar benannt, von den prekären, häufig auf Zeitverträgen basierenden Arbeitsverhältnissen über die bei Kunstproduktionen unvermeidlichen Hierarchien (keine Symphonie ohne Dirigent, kein Set ohne Regisseur) bis zur besonderen Dünnhäutigkeit von Schauspieler:innen oder Musiker:innen, zu deren Beruf es gehört, ihr Innerstes preiszugeben.
Umso wichtiger der Schutzraum. Als Spitzenverband der deutschen Kulturverbände hat der Kulturrat nun einen Dialogprozess zum „Respektvollen Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien“ in Gang gesetzt, am Auftakttreffen vergangene Woche nahmen 51 Vertreter:innen aus allen Sparten teil. Das Ziel: In einem Jahr soll ein gemeinsamer Verhaltenskodex vorliegen, nach dem Aktionsplan von Kulturstaatsministerin Claudia Roth.
Klingt gut, aber bringt es auch was? Compliance-Regeln existieren ja längst, beim Deutschen Bühnenverein, bei Festivals oder Filmproduktionen. „Wir gehen respektvoll und vorurteilsfrei miteinander um. Wir sichern ein faires Miteinander“, heißt es im „Code of Conduct“ von Constantin Film, Til Schweigers Produktionsfirma. Und weiter: „Wir setzen auf ein Arbeitsklima, in dem auch kritische Fragen bei Führungskräften, Geschäftsführung und Vorstand offenes Gehör finden“. Genutzt hat es Schweigers Opfern nicht.
Und trotz Wertekodex des Bühnenvereins („Ich unterlasse jede körperliche, sprachliche oder gestische Form von Übergriff oder Diskriminierung“) berichteten fast 90 Prozent der 752 Teilnehmer:innen einer aktuellen anonymen ARD-Befragung, dass sie an einem deutschen Theater mit Machtmissbrauch konfrontiert waren, in 130 Fällen sogar mit sexuellen Übergriffen.
Wie kann so ein Kodex verpflichtend werden, mit Sanktionen? Sollen staatliche Finanzierung und Förderung künftig an den Nachweis moralischer Integrität gebunden sein? Wer kontrolliert und ahndet Verstöße? Wer hat da dann die Macht? Ein Dilemma: Mobbing und Missbrauch müssen aufhören, aber die Kunst bleibt frei. Der Staat darf sie nicht an die Kandare legen, auch nicht für den noch so guten Zweck.