Berlinale-Wettbewerb: Highlights gesucht
Die Montage ist, das wusste schon der französische Bewegtbild-Illusionist Georges Méliès, der größte Zaubertrick des Kinos. Wenn aus Einstellungen Szenen und aus Szenen Sequenzen werden, entwickeln Kinobilder einen eigenen Rhythmus für Raum und Zeit. Oder können die Wirklichkeit aufheben.
Dann kann es passieren, dass eine junge Frau auf ihrer Hochzeit in der Elfenbeinküste sitzt und sich in der nächsten Szene in der afrikanischen Community von Guangzhou befindet und fließend Chinesisch spricht, wie in „Black Tea“ von Abderrahmane Sissako. Oder ein Nilpferd namens Pepe erzählt im gleichnamigen Film des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlo de los Santos Arias die Geschichte einer unfreiwilligen Reise von Ostafrika nach Kolumbien, ohne ein Bewusstsein für Raum, Zeit und Sprache zu haben. Dafür immerhin eine Stimme.
Zwei Migrationsgeschichten testen im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb die erzählerischen Möglichkeiten des Kinos aus und kommen dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Ihre Geschichten mäandern, Figuren treten herein und wieder hinaus, bis sich die Filme im Imaginären auflösen. Sissako und Santos Arias haben zwei der interessanteren Versuche mit nach Berlin gebracht, die transnationalen Erzählströme im Weltkino neu zu kanalisieren.
Wobei „Black Tea“ auch symptomatisch für diesen Wettbewerb steht, in dem viele Filme, von einer interessanten Idee ausgehend, keine Neugier für Bilder entwickeln oder neue Perspektiven entdecken – welche das Kino aber doch braucht, will es etwas Neues über unsere Gegenwart erzählen.
Beton-Diskurs und archaischer Heimatfilm
Die Erfahrungen einer jungen Afrikanerin in China (die Gegenbewegung zum chinesischen Expansionswillen in Afrika) hätte so eine Geschichte sein können, sie endet aber im exotisierenden Kitsch einer erotischen Tee-Zeremonie. Andere Filme begnügen sich mit einer guten Idee ohne ästhetisches Konzept.
Dann überwölbt schon mal eine monumentale Bildsprache ihr Thema (Victor Kossakovskys Beton-Diskursfilm „Architecton“). Oder sie dichtet – wie im archaischen Anti-Heimatfilm „Des Teufels Bad“ von Veronika Franz und Severin Fiala – die Welt so hermetisch ab, dass es nicht nur der weiblichen Figur, sondern auch jedem Ansatz von Gesellschaftsreflexion die Luft abschnürt.
Der Berlinale-Wettbewerb 2024 ist voll von solchen unschlüssigen Filme mit halbfertigen Ideen. Von diesen zwanzig Beiträgen ein Urteil über den gegenwärtigen Zustand des Weltkinos herzuleiten, ist nahezu unmöglich. Carlo Chatrian hatte fünf Jahre Zeit, um sein Versprechen eines avancierten Kinos zu präsentieren.
Aber auch in diesem Jahr, seinem letzten als Künstlerischer Leiter, finden sich die ambitionierteren Filme, die etwas wagen, über alle Sektionen verteilt – nur eben kaum im Wettbewerb. Leider auch zu selten in der Reihe Encounters. Es überwiegen bescheidenes Kunsthandwerk (der iranische Beitrag „My Favourite Cake“) und Filme, die so emphatisch aus dem Leben zu schöpfen versuchen, dass kaum noch Kino übrig bleibt („Langue Étrangère“ von Claire Burger).
So bleibt als einziger Hoffnungsträger dieses Jahr ein südostafrikanisches Nilpferd, das nach Worten für sein Schicksal sucht, im Privatzoo von Drogenboss Pablo Escobar gelandet zu sein. Und dabei auf Menschen trifft, die sich einen Reim auf dieses seltsame Wesen und ihre eigenen Lebensumstände zu machen versuchen. Das ist nie gimmickhaft, Santos Arias experimentiert mit filmischen Formen (Essay und Fiktion, Animation und Überwachungsbilder), um das Weltkino um neue Perspektiven zu bereichern. Pepe ist der Star des Wettbewerbs.