Under the Radar Theaterfestival in NYC: „In your face“ und kräftig wachrütteln
Direkt, konfrontativ, provokativ ist die Ansprache oft: „in-your-face. Am deutlichsten bei dem Kanadier Cliff Cardinal, der auf einem Indianerreservat in South Dakota zur Welt kam. Statt, wie angekündigt, Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ zu spielen, zieht er in radikaler Stand Up-Manier das überwiegend weiße Mittelschicht-Publikum im Saal des NYU Skirball-Theaters (das die Produktion auch bezahlt hat) zur Verantwortung für Landnahme und fortgesetzten Missbrauch der indigenen Bevölkerung. Bis sich keiner mehr in seiner Haut wohl fühlt…
Für Under the Radar-Festivalchef Mark Russell gehört Cardinal zu den jungen Wilden, die „alle möglichen Strategien auffahren, um die Leute wachzurütteln. Viele kommen in der Tradition von Andy Kaufman aus der Comedy und finden zu einem neuen provozierenden Spiel mit Realitäten.“
So einer ist auch John Jarboe vom The Bearded Ladies Cabaret in Philadelphia. In seinem Camp-Musical „Rose: You Are Who You Eat“ arbeitet er sich in den Mutterbauch zurück, wo er seine Zwillingsschwester Rose verspeist. Der kannibalistische Kunstgriff dient der radikalen Neudefinition queerer Selbstermächtigung. Am Ende wandelt sich John in einem Meer von Rosen zur doppelidentitären Rose – die endlich auch von der Mutter, in Gestalt des Publikums, angenommen wird.
Die Works & Progress-Auftragsproduktion des Guggenheim Museums ging ebenso im La MaMa Experimentaltheater über die Bühne wie der feministische Neuzugriff auf den Kassandra-Mythos „Of the Nightingale I Envy the Fate“. Im ausdrucksstarken Tanz Solo von Stefania Tansini wird aus dem Opfer-Archetypus Empowerment.
Sexuelle Fantasien, Mutterwunsch-Verlangen und Mansplainings
„In-your-face“ ist auch, wie sich vier Akteure des irischen Kollektivs Pan Pan Miranda July‘s Bestseller „The First Bad Man“ („Der erste fiese Typ“) im Rahmen einer Buch-Party aneignen. Abwechselnd tragen sie die abgedrehten sexuellen Fantasien, Mutterwunsch-Verlangen und Mansplainings aus dem Roman vor.
Im Samuel Rehearsal Studio des Lincoln Center gehört Pan Pan ebenso zum Auftakt des diesjährigen „Under the Radar“-Festivals wie im Clark Studio Theater nebenan der ghanaisch-britische Dichter und Dramatiker Inua Ellams. Bei „Search Party“ trägt er auf Zuruf aus dem Publikum Auszüge seiner Werke vor. Nur einen Tablet-Klick entfernt sind meist bittere, von rassistischen Ausgrenzungserfahrungen geprägte Sentenzen.
Die „Queens of Sheba“ gehören seit ihrem Auftritt im letzten Jahr zu den Publikumslieblingen. Auch bei der 19. Ausgabe des „Under the Radar“-Festivals glänzen die vier afro-karibischen Frauen aus Großbritannien wieder mit einem rasanten Parcours durch stereotype weiße Sichtweisen auf schwarze Frauen, Irritationen beim Interracial-Dating und nicht zuletzt auch die Ironisierung klischierten Macker-Verhaltens schwarzer Männer. Sie fackeln ein Trivia-Feuerwerk ab, das dem „trivial truth“ (der einfachen Wahrheit) ihrer Lebensverhältnisse entspricht.
Publikums- und Kritikerhit
Noch im Sommer schockte die Nachricht, dass das Public Theater, das seit knapp zwei Jahrzehnten angestammte Festival nicht weiterführen kann. Was Gründer Mark Russell „the global downtown“ nennt, nämlich einen Durchlauferhitzer für zuhause und weltweit entstandene innovative Neuproduktionen, war zu einem Markenzeichen und Wegweiser im internationalen Festivalzirkus geworden. Das Publikum kam in Scharen. Die New Yorker Kritik hätschelte die wegweisenden Produktionen.
Das tut sie jetzt wieder, wo das Festival dank einer Kraftanstrengung von Mark Russell und befreundeter Produzenten mit Macht zurückgekommen ist. Fast jede einzelne der 17 Produktionen an 12 Spielorten wird in der New York Times oder in Broadway-Fachblättern gewürdigt. Obwohl Russell das Festival in der Rekordzeit von nur fünf Monaten neu aufgestellt hat, ist kein Qualitätsverlust zu bemerken.
„Nach dem Schock kam die große Befreiung!“, Russel atmet noch heute auf. „Die Szene trauerte und hat sich dann auf sich selbst besonnen: Machen wir was Großartiges daraus!“
Russells wirkmächtigster neuer Partner ist das Lincoln Center, das in New York City immer mehr die Funktion übernimmt, die Joe Papp’s Public Theater (legendär: „Shakespeare in the Park“) einst innehatte. Im Sommer kalibriert das Zentrum geballt hochkarätige Veranstaltungen umsonst und draußen. In diesem Winter bietet es erstmals auch umsonst und drinnen an.
Zum Jahresauftakt war Latin Grammy-Gewinner Pedro Giraudo mit seinem Tango Quartett eintrittsfrei im David Rubenstein Atrium zu erleben. Für das „globalFEST“ mit zehn internationalen Bands auf drei Bühnen der David Geffen Hall wurde zwar 60 Dollar Eintritt in verlangt. Aber das ist fast nichts, gemessen an sonst horrenden Eintrittspreisen. „Die neue Leiterin Shanta Thake hat das Lincoln Center mit großem Erfolg den Leuten zurückgegeben“, so Mark Russell, der mit der ihr beim Public Theater zusammengearbeitet hat.
Kleines Budget, viel Good Will
Waren die drei kleinformatigen Auftaktproduktionen des „Under the Radar“-Festivals im Lincoln Center alle mit wenig Aufwand herstellbar, sind andere Aufführungen etwa aus dem Libanon, aus Südafrika, Japan, Italien und nicht zuletzt der Festival-Heimatstadt New York City, nur mit viel Good Will zu stemmen. Nur knapp 400.000 Dollar standen dem Festival zur Verfügung.
Dmitry Krymov, der renommierte russische Exil-Regisseur, hat zwar im La MaMa mit seinem „Lab“ ein neues Zuhause gefunden. Bezahlen kann er sein engagiertes Team aber kaum. Er zeigt im BRIC Arts Media House in Brooklyn seine Version von Puschkins „Eugene Onegin“ als clowneskes, sichtlich handgemachtes Spiel mit Erwartungshaltungen an klassische russische Dramen und ihren möglichen Bedeutungsverlust bei der Übertragung nach Amerika.
Das St. Anne’s Warehouse in Brooklyn (wo „Under the Radar“ 2005 seinen Ausgang nahm) konnte sich die vier Mal 45-minütige Multi-Media-Tanz-Performance „Volcano“ von Luke Murphy hauptsächlich dank irischer Kulturinförderer und seines Dauer-Großsponsors, Bloomberg Philantropies, leisten. Wie zwei Männer in einem futuristischen Glaskasten auf Kommando Game- und Talk-Show-Formate abrufen sowie nahezu alle Formen des Modern Dance, begeisterte ein ausverkauftes Haus.
Ein Renner ist auch Shayok Misha Chodry’s vielfach preisgekröntes bilinguales Stück „Public Obscenities“ am Theater for a New Audience. Die Recherche-Reise eines nach Amerika emigrierten jungen Inders und seines schwarzen Freundes nach Kalkutta gerät zur anrührenden Familienaufstellung zwischen den Geschlechtern und Kulturen. Auch das: „in-your-face“.