Nachtfahrt über Charkiws Ku’damm
21. Juli 2022
Früher fand ich sie absurd und habe mich immer gefragt, wer schaut sich nur so was an? Diese Videos, gefilmt aus dem Zug- oder Autofenster mit einer wackelnden Kamera. Inzwischen stelle ich diese Frage nicht mehr, denn ich bin selbst zum Zuschauer solcher Videos geworden.
Immer wieder, aber vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen kann, gucke ich sie mir an. Es ist einfach zu verstehen, denke ich jetzt: Solche Videos sind für Menschen gemacht, die gern in diesem Zug oder Auto sitzen würden, es aber nicht können.
Das berühmte Taras-Schewtschenko-Denkmal ist von Sandsäcken umgeben
Heute Nacht fuhr ich mehrmals die Sumska entlang, die Hauptstraße meiner Heimatstadt Charkiw. Die Sumska ist für Charkiw wie der Kurfürstendamm oder Unter den Linden für Berlin. Über die Sumska wurden Gedichte geschrieben, es gibt kaum eine Charkiwer Band, die die Straße nicht besingen würde.
Meine Sumska fängt beim Palast der Jungen Pioniere an (der heute Palast der Kinder und Jugend heißt). Als ich zehn war, besuchte ich hier sonntags das Literaturstudio und hörte zum ersten Mal über die Bücher, die später mein Leben geprägt haben, hier lernte ich andere Kinder kennen, mit denen ich noch jahrelang befreundet war.
Schräg gegenüber ist das riesige Verwaltungsgebäude, das am 1. März dieses Jahres brutal zerbombt wurde. Läuft man weiter, so sieht man in wenigen Minuten rechts … stopp, dieser Satz stimmt nicht mehr ganz! … Man hätte das berühmte Taras-Schewtschenko-Denkmal sehen können, jetzt ist es korrekt. Im Moment wird die Statue des Nationaldichters mit Sandsäcken gegen die russischen Raketenangriffe geschützt.
Auf der anderen Straßenseite befand sich früher das legendäre Stehcafé Charkiwjanka (die Charkiwerin), im gleichen Haus wohnte in den späten Sechzigern Eduard Limonow, ein avantgardistischer junger Dichter, der in den Siebzigern in die USA emigrierte und dort drei Romane über Charkiw schrieb. Er zog später nach Paris und dann in den Neunzigern nach Moskau, wo er eine rechte Partei gründete und in der unabhängigen Ukraine Persona non grata wurde. Sein im 2015 erschienenes Buch hieß „Kiew kaputt“.
1970, drei Jahre nach Limonows Umzug nach Moskau, begann neben seinem Haus der Bau des neuen Operntheaters, der 21 Jahre dauerte. Das Ergebnis fand ich nie besonders hübsch, dafür war es aber beeindruckend groß – und im Erdgeschoss gab es sogar einen Plattenladen, wo ich mit 14 meine ersten Platten kaufte.
Direkt vor dem Eingang standen auch Privatverkäufer mit ihrer Vinyl-Auswahl sowie polnischen Bootleg-Kassetten. Ich kann mich gut an einen von ihnen erinnern – blass, langhaarig, mit den blauen Jeans und der Lederjacke sah er aus wie der Bassist einer britischen Hardrockband aus den Siebzigern. Von ihm habe ich damals Sex Pistols, The Clash und Nirvana gekauft.
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Bei meinem letzten Charkiw-Besuch war er immer noch da, die vergangenen 30 Jahren haben bei ihm keine Spuren hinterlassen. In den Youtube-Videos, die man findet, kann man ihn nicht sehen. Es ist gerade keine gute Zeit für die Plattensammler, und die Oper ist auch kein sicherer Ort – zwei Raketen landeten auf ihrem Dach, gingen aber nicht hoch.
Einen Block weiter Richtung Platz der Verfassung liegt das vor 100 Jahren von Les Kurbas gegründete Staatstheater. Der Regisseur und Schauspieler Kurbas war einer der bedeutendsten Theatermacher seiner Zeit, 1937 wurde er bei einer Massenerschießung neben vielen anderen ukrainischen Kulturakteuren getötet. Gegenüber vom Theater steht immer noch die Puschkin-Büste, aber wahrscheinlich nicht mehr lange.
Im Youtube-Auto, das mich durch Charkiw fährt, spielt leise Musik. Ich schlafe ein und wache ein paar Stunden später in meinem Bett in Berlin auf. Während ich geschlafen habe, wurde Charkiw wieder bombardiert. Drei Leute kamen dabei ums Leben. Hier in Deutschland wird man langsam müde und möchte endlich mal über etwas anderes lesen, den Sommer genießen, in den Urlaub fahren. Diese Optionen haben meine Landsleute in der Ukraine gerade nicht.
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