Van Gogh an der Seine: Als Fabriken die Landschaft eroberten
Dampfende Schlote recken sich schlank in den Himmel, graue Rauchwolken mischen sich mit dem fahlen Schimmer des Firmaments. Die roten Dächer der Fabrikgebäude sind die einzigen Farbtupfer auf dem Gemälde „Fabriken bei Clichy“, das Vincent van Gogh 1887 gemalt hat. Ein brauner Zaun trennt das Industriegebiet von einem in Gelbgrün gemalten lichtdurchfluteten Feld, deutlich sind die einzelnen Pinselstriche zu erkennen. Ein ungewöhnlicher van Gogh ist das, eine Leihgabe aus dem Saint Louis Art Museum.
Dieses und weitere bemerkenswerte Gemälde nicht nur von van Gogh, sondern auch von Paul Signac, Georges Seurat, Émile Bernard und Charles Angrand entdeckt man in der Ausstellung „Van Gogh entlang der Seine“, mit der das Van Gogh Museum in Amsterdam sein Jubiläumsjahr zum 50-jährigen Bestehen des Museums beendet. Kooperationspartner ist das Art Institute of Chicago, das über eine bedeutende Sammlung von Werken des niederländischen Malers, aber auch von Georges Seurat verfügt. In Chicago war die Ausstellung mit über 75 Gemälden schon dieses Jahr zu sehen, nun wandert sie nach Amsterdam.
Wer meint, schon alles von van Gogh gesehen zu haben, wird ins Staunen geraten. Man kennt ihn einerseits als den Maler, der in jungen Jahren die in düsteren Brauntönen gehaltenen Bilder bäuerlichen Lebens in den Niederlanden wie etwa die „Kartoffelesser“ geschaffen hat, und dann seine vor Sonne und Licht flirrende Malerei aus der Provence. Aber wie kam es zu diesem kompletten Wechsel des Malstils und der Farbpalette?
Die Ausstellung gibt eine verblüffende Antwort. Sie liegt in den Vororten von Paris begründet. 1886 reist van Gogh zu seinem Bruder Theo nach Paris, der dort Geschäftsführer des Kunsthandels Goupil am Boulevard Montmartre war. Hier war Vincent in seinem Element, lernte Claude Monet kennen.
Im Atelier von Fernand Cormon, wo er Unterricht nahm, traf er auf Künstler wie Henri de Toulouse-Lautrec und Émile Bernard. Dieser wiederum fuhr zum Malen nach Asnières im Norden von Paris, ein einst idyllischer Vorort, der mehr und mehr von der Industrialisierung verändert wurde. Schornsteine, Fabriken, Gasometer prägten die Landschaft, schufen reizvolle Kontraste.
Die Eisenbahn wurde ein immer wichtigeres Verkehrsmittel, moderne Brücken überspannten die Seine, um das Umland zu erschließen. Nicht nur Émile Bernard, auch Georges Seurat, Paul Signac und Charles Angrand zog es in diese Gegend, die die neue Zeit zu symbolisieren schien.
Ein völlig anderes Tempo in Paris
Die Malergeneration vor ihnen hatte es nach Argenteuil gezogen, wo es noch ländlicher und ursprünglicher war. Doch van Gogh hatte schon einiges erlebt, hatte im Süden der Niederlande das bäuerliche Leben eingefangen, war in der Borinage, dem belgischen Kohlerevier, als Laienprediger und Maler unterwegs gewesen – und nun brauste Paris mit seinen schnell wachsenden Vororten und einem völlig anderen Tempo auf ihn ein. „Als ich in Asnières malte, sah ich mehr Farben als je zuvor”, schrieb er an seine Schwester.
„Die mit der Natur vermischte Industrie hat ihre poetische Seite. Es geht darum, es zu sehen und sich inspirieren zu lassen”, schrieb schon 1859 der Kunstkritiker Jules François Felix Fleury-Husson, der unter dem Namen Champfleury publizierte. Er hat vorausgesagt, was diese fünf jungen Maler faszinierte, die Ähnliches malten, ohne deshalb gleich eine Gruppe zu bilden.
Eisenbahnen und Fußgängerbrücken
„Brücken über die Seine bei Asnières“ (1887) ist ein weiteres bemerkenswertes Werk von van Gogh. Es zeigt im Vordergrund die Eisenbahnbrücke von Asnières, über die gerade ein Zug mit rauchender Dampflok donnert, während im Hintergrund die etwas filigranere Fußgängerbrücke zu erkennen ist. Historische Postkarten aus jener Zeit zeigen, dass van Gogh diese Brücken, die er in seinem jetzt lockereren helleren Malstil mit nebeneinandergesetzten einzelnen Pinselstrichen so gemalt hat, dass man sie wiedererkennt.
Auch sein Freund Bernard hat das gleiche Motiv gewählt, malt aber flächiger, umrandet die klaren Farbfelder mit schwarzen Linien. Bei „Zwei Frauen auf der Fußgängerbrücke von Asnières“ platziert er nur zwei Köpfe im Profil am unteren Bildrand, während man im Hintergrund auf die Industrielandschaft an der Seine mit den rauchenden Schloten und der Kohleverladestation für das Gaswerk von Clichy blickt, auf dessen Brücke gerade ein Zug Kohle transportiert. Zwei Welten in einem Bild – das hat die Künstler fasziniert.
Paul Signac und Georges Seurat entwickelten hier den Stil des Pointillismus, indem sie einzelne reine Farbpunkte nebeneinandersetzen, die erst aus der Ferne zu einem Farbeindruck verschmelzen. Auch Georges Seurats berühmtes Bild „Badende in Asnières“ zeigt im Hintergrund die Fabrikschlote und die Brücken. Eine Entdeckung ist der Mathematiklehrer Charles Angrand, der vor allem mit Seurat reiste. Beide malten fast identische Bilder im pointilistischen Stil, etwa die Segelboote auf der Seine bei der Insel Grande Jatte. Van Gogh hatte ein Bild von ihm in Paris im Schaufenster entdeckt und ihn zum gemeinsamen Malen eingeladen.
Zwei Jahre hatte er es in Paris ausgehalten, dann zog es ihn in den Süden – um das auszubauen, was er in der französischen Hauptstadt gelernt hat. Die Ausstellung wirft einen aufschlussreichen Blick auf eine kurze Epoche, in der van Gogh und seine Freunde die Malerei entscheidend weiterentwickelt haben.