Russen-Kitsch findet man nicht nur auf dem Flohmarkt

11. Juni

„Und was vermissen Sie gerade am meisten aus der Ukraine, Herr Gurzhy?”, fragt mich die freundliche Radiojournalistin am Telefon. Ich muss kurz überlegen. Ich sitze in der Erfurter Gästewohnung, in der ich zur Zeit jedes Wochenende verbringe. Es ist ein Luxus, hierhin zurückkehren zu können, immer im gleichen Bett zu schlafen, während ich zwischen Freitag und Sonntag in Erfurt arbeite. Ich trinke einen Espresso am Küchentisch, wo ich gern meine Emails beantworte. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich das Haus gegenüber und eine kleine ukrainische Fahne im zweiten Stock.

Ukrainische Flohmärkte, antworte ich. Denn heute ist Samstag, und wäre ich gerade in Charkiw oder Kiew, würde ich zum Flohmarkt gehen. Ich liebe Flohmärkte, weil ich Schallplattensammler bin – nach meinen Besuchen dort wird mein Gepäck schwerer, und in meinem Plattenschrank bleibt immer weniger Platz. Noch dazu ist jeder Flohmarktbesuch eine Art Geschichtsunterricht, hier wird mit der Vergangenheit gehandelt.

Alte Puppen und Bücher der sowjetischen Schriftsteller, verblasste Klamotten und Porträts von Breschnew – viele Gegenstände, die man auf ukrainischen Flohmärkten findet, kommen wie direkt aus meiner Kindheit. Die Alben der russischen Propaganda-Popbands aus den 1970ern kann man für weniger als einen Euro erwerben; als sie rauskamen, war die Musik omnipräsent, heute wollen sie nur noch Wenige haben.

Dafür ist die Nachfrage nach dem ukrainischen Retrosound in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, der Mustache Funk ist en vogue. Die Auflagen der ukrainischen Bands waren damals nicht so hoch, heutzutage verkauft man die Platten von VIA Arnika oder Vizerunki Shliahiv für 50 bis 60 Euro.

Schallplatten zum Thema Völkerfreundschaft

Auf dem Rückweg aus dem Proberaum fällt mir ein Werbeplakat auf, das den größten Nachtflohmarkt Thüringens ankündigt. Ich stelle fest, er findet heute ab 16 Uhr statt (die Nacht fängt in Erfurt früh an!), und man kommt direkt mit der Straßenbahn hin. Obwohl ich in den vergangenen Monaten oft in Erfurt war, habe ich noch keine einzige Platte hier gekauft, das sollte sich ändern! Hinter mir in der Tram sitzt eine Mutter mit zwei Töchtern, sie unterhalten sich auf Ukrainisch. Wir steigen an der gleichen Haltestelle aus, sie laufen in dieselbe Richtung. Die Mutter wirkt unsicher und schaut ständig auf ihr Handy, wahrscheinlich sind sie neu hier.

Der größte Flohmarkt Thüringens findet in einer Messehalle statt und ist ungefähr so groß wie ein normaler Berliner Flohmarkt. Eintritt 3 Euro. Sofort sehe ich die Stände der Plattenhändler; es sind nicht viele, sechs oder sieben vielleicht. Zum größten Teil werden hier Platten aus der DDR angeboten, man sieht sie in Ostdeutschland überall.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten zum Krieg in der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Neben unzähligen Alben von Karat und den Puhdys tauchen immer wieder Schallplatten zum Thema Völkerfreundschaft auf: „Abend an der Moskwa“, „Musik aus Freundesland“, „Moskau – Berlin“ … Hätte es sie nicht gegeben, denke ich, müssten die deutschen Vinylverkäufer heute wesentlich weniger Kram mitschleppen. Aber sie gibt’s immer noch, auch wenn niemand mehr daran Interesse zu haben scheint. Genauso wenig wie an den Tausenden Scheiben Ivan Rebroffs, die im Westen Deutschlands produziert wurden.

Russland-Kitsch. Wahrscheinlich wurden die Schubladen für die Plattenläden der BRD in der XXL-Größe gebaut, damit alle Anuschkas, Kosaken-Chöre sowie „Taiga-Sehnsucht“, „Trink, Matrjoschka“ und „Wodka Party-Hits nonstop“ dort reinpassen würden. Ich frage mich, ob diese Platten, die es vor 50 Jahren wahrscheinlich in jedem Haushalt Deutschlands gab, dafür mitverantwortlich sind, dass es meinen Mitbürger*innen heute schwer fällt zu glauben, dass ihre russischen Freunde die neuen Nazis sind?

Bei dem Stand links von mir möchte die Ukrainerin aus der Straßenbahn eine Pfanne und drei Tassen kaufen. Die freunliche ältere Verkäufern nimmt die fünf Euro von ihr und fragt, wo die Dame und ihre Töchterchen herkommen. „Aus Mariupol“, antwortet sie.