Der gute Geist im Bademantel

Geschichten bestehen aus Geschichte. In der Fiktion steckt – mal mehr, mal weniger – historisch Verbürgtes, denn sie entstammt Menschenhirnen, die Erlebtes kopieren, interpretieren und neu arrangieren. Die Narratologin Alithea Binnie (Tilda Swinton), deren komplizierter Name und ebensolche Berufsbezeichnung das Bild der kauzigen, bebrillten Jungfer mit akademischer Expertise bereits vorwegnehmen, forscht zu dieser Wechselwirkung: Sie untersucht Mythen. Die Vorträge, mit denen sie als Erzähltheorie-Dozentin um die Welt reist, handeln vom Wahrheitsgehalt in Legenden und Sagen.

Als Alithea bei einer Dienstreise nach Istanbul ein schmuddeliges, aber elegant geschwungenes Glasgefäß von einem Basar mit ins Hotelzimmer nimmt, erlebt sie die wortwörtliche Bedeutung vom „den Geist aus der Flasche lassen“. Beim Versuch, das Fläschchen mit ihrer elektrischen Zahnbürste vom Gröbsten zu reinigen, plumpst der Stopfen ins Waschbecken.

Und es erscheint – mit angemessenem Rauch-und-Feuer-Brimborium – jemand, der die von ihr geliebten Geschichten verifizieren könnte: Durch seine Unsterblichkeit ist der riesige Djinn (Idris Elba), der plötzlich in ihrem Hotelzimmer steht, quasi ein Zeitzeuge. Im Gepäck hat der freundliche Dämon selbstredend drei Wünsche, die er Alithea erfüllen muss – sonst droht ihm die Zwangswiedereinlieferung in die langweilige Flaschen-Existenz. Aber dazu müsste die selbstgenügsame Frau erst einmal herausfinden, was sie begehrt…

Geschichten fast wie aus 1001 Nacht

„Mad Max“-Regisseur George Miller kreuzt in „Three Thousand Years of Longing“, seiner über zwanzig Jahre entwickelten Adaption einer Kurzgeschichte der britischen Autorin A.S. Byatt das Kammerspiel mit dem Fantasy-Genre. Seine Ausgangslage ist die Annäherung zweier einsamer Wesen – die neugierige Narratologin und der immer wieder über Jahrhunderte in der Flasche darbende Geist. Nach klassischem Scheherazade-Muster erzählen sich die beiden ihre Abenteuer. Der Djinn, der sich größentechnisch an das für Humanoide ausgerichtete Hotelzimmer anpasst, und fortan im weißen Bademantel und mit ausgefransten Ohren brav neben der ebenfalls in Frottee gehüllten Wissenschaftlerin hockt, hat dabei naturgemäß etwas mehr zu berichten.

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Seine Anekdoten, die Miller in sinnlicher Fantasy-Ästhetik mit etwas „Witcher“-Flair als weit in die Vergangenheit reichende Rückblenden inszeniert, handeln von der schönen Königin von Saba, in die nicht nur Salomon, sondern auch der Djinn schwer verknallt war; vom Sohn des Sultans Süleyman und dessen Vorliebe für übergewichtige Frauen; vom Regenten Murad IV.; und von einer begabten Erfinderin namens Zefir.

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Es ist ein mythologisch-historisches Gespräch auf Augenhöhe, denn Alithea, die unter Halluzinationen leidet, sind die Mythen natürlich vertraut – zumindest die Passagen, die die Geschichtsschreiber überlieferten. Doch die stellen sich nicht immer als faktentreu heraus. Salomon habe die Königin von Saba aufgesucht, sagt der Djinn. Nein, sie ist zu ihm gekommen, korrigiert Alithea, und verweist auf Gemäldemotive und Händels „Die Ankunft der Königin von Saba“. „Ich war doch dort, meine Dame“, wirft der Djinn, der von Elba mit einer amüsanten Mischung aus Ergebenheit und außermenschlichem Exotismus gespielt wird, trocken ein.

(In 21 Berliner Kinos, auch OV/OmU)

Mit solchen opulenten Fantasmen und Dönekens arbeiten sich Miller und Co-Autorin (und Tochter) Augusta Gore so an der originären Funktion des Geschichtenerzählens ab, die auch den Grundstock des Filmemachens bildet. Andererseits stellt Miller die Liebe in den Mittelpunkt seines kulturübergreifenden Plots: Nichts und niemanden zu begehren, djinnsplaint der weise, 3000 Jahre sehnsuchtserfahrene Geist gegenüber seiner neuen Bekanntschaft, sei eigentlich unmöglich.

Miller siedelt seine Dramaturgie weit weg von den von ihm gewohnten Action-Narrativen an und inszeniert die kühnen, eindrucksvoll animierten Mini-Epen eher kontemplativ als zwingend. Wenn es ein Schicksal gäbe, sinniert Alithea, können wir ihm entkommen? Solche philosophischen Fragen, oder auch die Erkenntnis, dass „wir nur existieren, wenn andere an uns glauben“, bekommen durch Tilda Swintons Spiel mit dem bezaubernden Djinn Wahrhaftigkeit.

Es ist ihr selbstbestimmter Charme, der ihre Figur vor dem misogynen Klischee der Alten Jungfer bewahrt – und allzu pittoreske Postkartenweisheiten ausbügelt. Ob das den Djinn vor dem Flaschenexil bewahrt, steht allerdings auf einem anderen Geschichtsblatt.