Geschliffene Klangpracht
Internationale Orchester sind eine Rarität geworden in der Berliner Philharmonie, die Pandemie hat den Horizont schrumpfen lassen. Der Klimawandel macht fernreisende Riesenensembles ohnehin fragwürdig. Zwar bietet die Berliner wie die deutsche Orchesterlandschaft auch ohne Gäste aus dem Ausland eine immense Vielfalt, dennoch freut man sich über ein erneutes Gastspiel der Wiener Philharmoniker.
Zuletzt waren die Wiener (übrigens nach wie vor mit bestürzend geringer Quote, nur 13 von 77 Musizierenden auf dem Podium sind Frauen) im Rahmen der Staatsopern-Festtage in der Hauptstadt, derzeit touren sie mit Andris Nelsons durch West-Europa. Nach Dresden und Berlin stehen Hamburg, Köln, Luxemburg, Paris und Brüssel auf dem Fahrplan – Entfernungen, die sich gut mit der Bahn bewältigen lassen.
Ein Stück Post-Pandemie-Normalität: Nelsons für den Mai geplante Europatournee mit dem Boston Symphony Orchestra, das er neben dem Leipziger Gewandhausorchester leitet, war kurzfristig doch gecancelt worden.
Nelsons, der Tausendsassa aus Lettland und eng getaktete Pultstar, ist berühmt für den glänzenden Schliff, den er auch dem legendären, tief timbrierten Wiener Klang des Traditionsorchesters zu verpassen mag.
Sofia Gubaidulinas zwölfminütiges „Märchenpoem“ liegt ihm jedoch weniger. Erst gegen Ende kommt das intuitiv Zauberische zum Tragen, das im besten Sinne Kindliche dieser Märchenerzählung von der Kreide, die davon träumt, Schlösser und Gärten malen zu dürfen statt der langweiligen Wörter in der Schule. Bis zum fantastischen Happy-End, mit weichen Glissandi, flirrender Klangsinnlichkeit und Pianissimo-Tremolo zur finalen Selbstauflösung der Heldin.
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Auch Dmitri Schostakowitschs Es-Dur-Symphonie Nr. 9 lebt von eher kammermusikalischen Raffinessen. Das Werk von 1945, das dem Komponisten unter Stalin endgültig Berufsverbot einhandelte, verweigert alles Triumphale. Aufmärsche mutieren zu Spielmannszügen, und schon im Allegro-Kopfsatz wird jede Heiterkeit von Nervosität untergraben.
Schostakowitsch zeigt dem Regime eine lange Nase, aber auch das ist ein Kraftakt. Nelson forciert die Akzente, er macht den latenten Druck deutlich, unter dem noch die kecke Klarinette (Daniel Ottensamer) im turbulenten Presto steht.
Zum innigsten Moment des Abends wird Sophie Dervaux‘ Fagott-Solo im Largo und ihre Aufforderung zum Tanz im Finalsatz, mit delirierenden Drehfiguren. Sie münden in jene Anti-Apotheose, die Schostakowitsch den Bannstrahl bescherte. Eine Armee von Untoten marschiert ins Verderben, von Nelsons rasant und kühl choreografiert.
Antonín Dvóraks Sechste zieht sich nach der Pause dann allerdings hin. Zwar kann sich bei dem eher undankbaren, sich ständig ermannendem, von Höhepunkt zu Höhepunkt wuchtenden Werk Nelsons Liebe zur Klangpracht entfalten; die Wiener Philharmoniker schwelgen in Legatobögen, raumgreifenden Crescendi und üppigen Farben. Aber trotz der geschmeidigen Rest-Eleganz ermüdet das opernhaft Auftrumpfende auf die Dauer. Dafür entscheidigt ein Johann-Strauss-Walzer als Zugabe, mit Schmelz und gehörigem Schwung.