Aufstand gegen den Penishalter
Auf der Flagge von Egalia prangt als Wappentier der Speerbeißerfisch. Eine Gattung, bei der das Männchen über die Brut wacht – was den Gepflogenheiten in dem nordischen Land mit der Mutterstadt Egalsund entspricht. Hier empfangen die Männer die Kinder. Nicht im biologischen Sinne, die Geburt wird nach wie vor von den Frauen erledigt – bei einer feierlichen Zeremonie im Gebärpalast zu dreistimmigem Wehengesang („Sie kommen und gehen, in Wellen sie schwellen“) samt großer Fruchtwasserhymne. Aber gleich danach werden die Babys den Männern überlassen. Jedenfalls den Glücklichen, die ein Vaterschaftsmatronat ergattern konnten. Die anderen, die alleinstehenden Herrlein, rangieren auf der sozialen Leiter ganz unten und dürfen höchstens Putzdienste verrichten. O Göttin!
Umgekehrtes Patriarchat
Die norwegische Autorin Gerd Brantenberg verkehrte in ihrem 1977 erschienenen Roman „Die Töchter Egalias“ das Patriarchat in sein Gegenteil. Im Spiegel der Verhältnisse soll die verkehrte Welt sichtbar werden, die für Normalität gehalten wird. Bei Brantenberg tragen die Männer einen PH, einen Penishalter („Größe 6 mit A-Röhre“), schämen sich ihrer Körperbehaarung, schmeißen den Haushalt und werden dafür von den Ernährerinnen geringgeschätzt. Auch sprachlich hat sich das Matriarchat erfolgreich durchgesetzt. In Egalia heißt es Wibschen statt Menschen, dam statt man. Und wenn der Papa schimpft, ruft er: „Kinder, befrauscht euch!“ Sehr lustig. Und auch heute im Kern noch treffsicher, ungeachtet aller gesellschaftlichen Fortschrittserzählungen.
Die Musikerin und Theatermacherin Christiane Rösinger hat diese überbordende Rache-Utopie jetzt zur Vorlage für ein „feministisches Singspiel“ gemacht. In „Planet Egalia“, einer Gemeinschaftsproduktion mit dem HAU, spielt Rösinger selbst die Direktorin Bram, deren pubertierender Sohn Petronius als Protagonist einer erwachenden Männerbewegung gegen den PH aufbegehrt und davon träumt, Taucherin zu werden.
Zwischen Seejungmann-Skulptur, futuristisch geschwungenen Bögen, Discokugelgefunkel und Podest für die Live- Band (Bühne: Marlene Lockemann, Sina Manthey) wird dazu „Too Old For Rock’n’Roll“, „Ein Schiff wird kommen“ oder „Stand By Your Girl“ gesungen, schwesterlich und Hand in Hand.
Polemik gegen Zweierbeziehungen
Allerdings weiß auch Rösinger, dass Brantenbergs mehrhundertseitiger Roman sich nach einer Weile erschöpft, weil das Prinzip ja nicht so schwer zu verstehen ist und der Raum für Überraschungen entsprechend begrenzt. Und dass sich der Geschlechterkampf in Zeiten fluider Gender-Identitäten etwas komplexer und frontenreicher präsentiert. „Inzwischen ist Feminismus so populär, dass er gar nichts mehr bedeutet“, ächzt die Künstlerin einmal. Klar, sie polemisiert immer noch gern gegen die „RZB“ (sprich: Romantische Zweierbeziehung). Aber bei all dem kommt ihr der Klassenkampf zu kurz („Es reicht nicht aus, wenn wir nur gendern, wir müssen bald mal alles ändern“, heißt es in einem Song). Also unternimmt sie zusammen mit der Band – Laura Landergott, Julie Miess, Elise Mory, Albertine Sarges – einen „Zeitsprung im Wahrscheinlichkeitskontinuum“. Gute alte Sciencefiction-Wirrnis!
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Die Musiker:innen und weiteren Performer:innen (Jona James Aulepp, Sila Davulcu, Malte Göbel, Kaey Kiel, Doreen Kutzke, Rúben Nsue, Minh Duc Pham, Sophia Sylvester Röpcke und Andreas Schwarz, der die schöne „Ode an das Anderssein“ beisteuert) finden sich in einem Mix aus Romanen von Ursula K. Le Guin, Joanna Russ und Marge Piercy wieder, die etwas radikaler denken als Gerd Brantenberg. Hier sind Geschlechter einfach abgeschafft („alle können zeugen, alle können gebären“). Anders als auf dem Planeten Erde gibt es auch kein Eigentum mehr und keine unbezahlte Care-Arbeit. Man wird ja noch träumen dürfen.
[ Im HAU 1 wieder am 24. und 25.11., 19 Uhr]
Wer erwartet hatte, dass Christiane Rösinger an die Agitprop-Schunkelei ihres erfolgreichen Mieten-Musicals „Stadt unter Einfluss“ im HAU anknüpfen würde, sieht sich womöglich enttäuscht. „Planet Egalia“ hat kein so klares Feindbild wie die Immobilienkraken, ist insgesamt sperriger, versponnener – aber auch ambitionierter. „Diesen Glauben, dass die Welt veränderbar ist, vermisse ich ein bisschen“, sagte Rösinger in einem Interview. Eben darauf zielt die neue Produktion mit ihrem kapitalismuskritischen Planeten-Hopping: auf das Ende aller Herrschaft. Und wahrscheinlich auch Frauschaft.