Das ist der Wahnsinn
Im dritten Anlauf haben es die Berliner Philharmoniker jetzt endlich geschafft, Pjotr Iljitsch Tschaikowskys „Mazeppa“ aufzuführen. Chefdirigent Kirill Petrenko hatte sich die Oper gewünscht, zu Ostern sollte eine Inszenierung bei den Festspielen des Orchesters in Baden-Baden herauskommen. Die wurde durch die Pandemie vereitelt – ebenso wie der Ausweichtermin im Mai, weil der Sänger der Titelrolle an Corona erkrankte.
Nach der Absage der geplanten Asien-Tournee der Philharmoniker waren nun im November Termine frei und „Mazeppa“ konnte endlich über die Bühne gehen, in konzertanter Form, zwei Mal in Baden-Baden und am Sonntag dann auch in der Berliner Philharmonie, in einer umjubelten Aufführung.
In Petrenkos russischer Heimat gehört „Mazeppa“ zum musiktheatralischen Kernrepertoire, hierzulande ist die Oper dagegen kaum bekannt. Inspiriert von Puschkins „Poltawa“-Poem erzählt das Libretto die traurige Geschichte von der Liebe zwischen einem alternden ukrainischen Heerführer und der blutjungen Tochter eines Gutsbesitzers. Weil der Vater seine Einwilligung zur Ehe von Mazeppa mit seiner Maria verweigert, verleumdet ihn der Offizier beim Zaren, der den Bürger daraufhin hinrichten lässt. Nachdem Mazeppa auch noch Marias Jugendfreund Andrej getötet hat, verfällt die junge Frau dem Wahnsinn.
Das Libretto wirkt prophetisch
Westlich der russischen Grenzen schätzt man eher Tschaikowskys bürgerliche Seelendramen wie „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“. Die archaischen Gesellschaftsstrukturen, die in „Mazeppa“ vorgeführt werden, wirken hier eher abstoßend. Weil dort ausschließlich das Recht des Stärkeren gilt, eine unabhängige Justiz unbekannt ist und sich Machtwechsel nur dadurch vollziehen, dass ein Unrechtsregime ein anderes stürzt.
Die 1884 in Moskau uraufgeführte Oper basiert auf historischen Fakten, spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts – und wirkt doch nicht nur rückwärtsgewandt, sondern geradezu prophetisch, wenn man an den Untergang des Zarenreichs und den Terror der Stalinzeit denkt. Und so manchem Zuschauer dürften einige der antiaufklärerischen Praktiken sogar bis heute vertraut vorkommen.
Von einer Inszenierung an der Komischen Oper 2013 ist die „Mazeppa“-Partitur als akustisch eher gewalttätig in Erinnerung. Die zahlreichen rumpeligen Passagen und lärmenden Szenen aber werden bei der Aufführung in der Philharmonie jetzt nachhaltig überstrahlt von den klanglichen Schönheiten der intimen Momente, die Kirill Petrenko überall entdeckt und hervorhebt.
Der Rundfunkchor präsentiert sich in bestechender Form
Wie gewohnt hat der detailbesessene Dirigent akribisch mit seinem Orchester geprobt, und so tauchen aus dem martialisch tönenden Geschehen immer wieder Inseln des Wohlklangs auf: Geigen schimmern im Goldglanz, Holzbläser ziselieren zarte Gefühle, süße Harmonien verströmen hochromantisches Parfum. Und sie bleiben im Ohr, ermöglichen einen neuen, differenzierten Blick auf die Oper.
Exzellent bis in die kleinste Nebenrolle ist der Abend besetzt. Es stehen durchweg muttersprachliche Solisti:nnen auf der Bühne, als „betrunkener Kosak“ liefert Alexander Kravets bei seinem Mini- Auftritt ein Kabinettstückchen scheinalkoholisierter Schauspielkunst. In bestechender Form präsentiert sich auch der Rundfunkchor Berlin: Ob es im Text um Volkstümliches oder Nationalistisches geht, stets entfalten die von ihrem Chefdirigenten Gijs Leenaars vorbereiteten Profis einen 3-D-Klang von faszinierender Tiefenschärfe.
Olga Peretyatko bleibt anmutig, auch im Wahnsinn
Olga Peretyatko verkörpert die unglückselige Maria, und es ist eine pure Freude, der Sängerin zuzuhören, deren Stimme sich in den vergangenen Jahren vom Koloratur-Fach ganz organisch ins Lyrische entwickelt hat. Geschmeidig führt sie ihren Sopran als Liebende, strahlt Herzenswärme aus, bleibt anmutig noch im Wahnsinn.
Klar und kräftig wie Wodka ist dagegen der Tenor, den Dmitry Golovnin Marias Jugendfreund Andrej leiht, eine wahre Urgewalt der Bariton von Titelheld Vladislav Sulimsky, dabei technisch meisterlich kontrolliert. Wenn er als Mazeppa auf seinen Widersacher trifft, also auf den nicht minder phonstarken Bass Dmitry Ulyanov in der Vaterrolle, wird aus dem Duett schnell ein Duell, ein Kampf der Stimmgiganten, der das Publikum gleichermaßen erschüttert wie berauscht.