Zur Eröffnung kommt der Messias
Auf einem Esel reitet er ein, dieser Messias, von dem man nicht weiß, ob er männlich oder weiblich, göttlich oder irdisch, aus der Vergangenheit oder Gegenwart ist. Sein Weg führt ihn über die menschenleere Straße des 17. Juni. Das Haar weißblond, das Gesicht bleich geschminkt, die Wallegewänder beigefarben, zieht diese mysteriöse Figur in die deutsche Hauptstadt ein, als wäre sie ein zweites Jerusalem. Vom Rücken des trottenden Tiers blinzelt Malka Germania, so heißt dieser Erlöser, hoch zum Brandenburger Tor. Soldaten tauchen auf, einer trägt die israelische Flagge als Schultertuch.
„Malka Germania“ (hebräisch: Königin Germania) ist auch die dreikanalige Video- und Audioinstallation von Yael Bartana überschrieben, einer Auftragsarbeit für das Jüdische Museum, das der in Berlin und Amsterdam lebenden israelischen Künstlerin eine erste große Werkschau widmet (Lindenstr. 9 – 14, bis 10. 10.; tägl. 10 bis 19 Uhr. Katalog 42 €).
Sie ist ein Paukenschlag für das Museum, das seit dem 1. April vergangenen Jahres mit Hetty Berg eine neue Direktorin hat und durch die Pandemie nie recht die Chance bekam, zu zeigen, wohin es in Zukunft gehen will. Die im August 2020 eröffnete neue Dauerausstellung war schon lange vorher konzipiert, wenig später musste sie wegen Corona wieder schließen.
Auch „Redemption Now“ („Erlösung Jetzt“), so der Titel der Bartana-Retrospektive, war vor Hetty Bergs Kommen bereits ausgemacht. Und wie die Dauerausstellung des Hauses erlebte sie ebenfalls einen stotternden Start, vier Mal musste die Schau mit fünfzig Arbeiten aus den vergangenen zwanzig Jahren verschoben werden, bis sie endlich eröffnet werden konnte. „Auch das war eine Erlösung“, so bei der Pressekonferenz der Stoßseufzer von Gregor Lersch, der mit Shelley Harten die Ausstellung kuratierte.
Endlich, wie alle anderen Museen der Stadt, steht das Haus wieder dem Publikum zur Verfügung. Ein Besuch der Schau geht eben nicht digital, Bartanas Videoarbeiten muss man körperlich erfahren, um die Faszination zu spüren, die von ihren charismatischen Führerfiguren ausgeht. In Philadelphia schickt die Künstlerin eine weißhaarige Frau mit einer Gruppe bewaffneter Menschen durch die Straßen der Stadt, die ihre Gewehre auf dem Laurel-Hill-Friedhof rituell begraben wie einst nordamerikanische Ureinwohner.
Ihre Videos spülen Verdrängtes an die Oberfläche
In ihrer bekanntesten Arbeit, „And Europe will be stunned“, mit der Bartana 2011 den polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bespielte, ruft der Aktivist Slawomir Sierakowski drei Millionen Jüdinnen und Juden dazu auf, nach Polen zurückzukehren. Die dreiteilige Videoarbeit machte die heute Fünfzigjährige schlagartig bekannt: In Teil zwei gründen jüdische Siedlerinnen und Siedler mitten in Warschau, dort, wo sich einst das Ghetto befand, einen Kibbuz, errichten sie in mythischer Manier ein Gemeinschaftshaus.
In Teil drei wird der von einem unbekannten Attentäter ermordete Anführer Sierakowksi beerdigt. Heute wäre es undenkbar, dass der polnische Staat eine solch ambivalente Darstellung in seinem Pavillon in den Giardini zulassen würde. Inzwischen dient das Video radikalen Nationalisten – in völliger Verkennung der Fiktionalität – als Beleg dafür, welche Gefahr von jüdischer Seite dem Land droht. Netzfaktenchecker bitten die Künstlerin deshalb immer wieder, zu verdeutlichen, dass es ein „Jewish Renaissance Movement“ wie in ihrem Video gar nicht gibt.
Mit solchen Irritationen aber arbeitet Yael Bartana, die in Jerusalem, New York und Amsterdam studierte, ganz gezielt. Ihre Videos spülen Verdrängtes, Gefürchtetes, Vergangenes wieder an die Oberfläche. Ihre Methode nennt sie „Pre-Enactment“. So segeln in „Malka Germania“, der auf Deutschland zugeschnittenen psychologischen Tiefenbohrung, lauter Gegenstände aus den Fenstern Berliner Häuser auf die Straße: ein Haufen gelber Reclamhefte, ein Luther-Bild, die gipserne Büste eines Denkers, Lampenschirme, Zwiebelmustergeschirr und Stühle. Alles muss raus. Eine Schar junger Israelis ist unterwegs, um die Straßenschilder der deutschen Hauptstadt gegen neue Bezeichnungen in hebräischer Schrift auszutauschen. Diese Vision, die sie tatsächlich träumte, wie die Künstlerin bei der Pressekonferenz erzählt, stand am Anfang ihrer deutsch-israelischen Seelenwanderung. Sie selbst kann nicht sagen, was es war: Wunsch oder Albtraum.
Aus dem Wannsee taucht Hitlers “Große Halle” auf
Mit Berlin als Schauplatz für „Malka Germania“ ist Bartana genau dort angelangt, wo sich die Erinnerungen, Ängste und Projektionen beider Seiten, deutscher und israelischer, verdichten. Die rätselhafte Messiasgestalt, die auf ihrem Esel wie unberührt von allem über das Tempelhofer Feld reitet, am Checkpoint Charlie vorbei, dann auf den Schwellen stillgelegter Bahngleise durch einen Wald schreitet, ein zerstörtes Dorf passiert, wirkt als Katalysator. Plötzlich tauchen drei von überirdischem Licht bestrahlte Maiden auf, die im Unterholz turnerisch Arme strecken, Fäuste ballen, eine Brigade junger Recken absolviert auf einem Waldpfad in Sportleibchen gekleidet Liegestütze. Als Malka schließlich ans Ufer vom Strandbad Wannsee tritt, taucht als riesenhafte Erscheinung Speers „Große Halle“ auf für die nie realisierte Hauptstadt Germania. Wassermassen strömen die gewaltige Kuppel herab.
Das ist dann doch ein bisschen dick aufgetragen, ja komisch. Warum nicht. Bartana hilft, bestimmte Klischees auszuagieren. Erlösung, auch wenn der Ausstellungstitel es suggeriert, ist trotzdem keine zu erwarten. Um wie viel dringlicher wir alle uns danach sehnen würden, war zu Beginn der Ausstellungsplanung vor drei Jahren nicht absehbar. Damals ahnte niemand das Aufziehen einer weltumspannenden Pandemie, die dramatischen Folgen für das Leben so vieler Menschen, die existenziellen Verwerfungen.
Einer „Amateuranthropologin“, wie Bartana sich nennt, die kollektive Vorstellungskraft und Gruppenidentitäten untersucht, müssten die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre hervorragendes Material liefern. Doch die Künstlerin arbeitet sich vornehmlich an israelischen Traumata ab. Es ist berührend, in der Ausstellung zu verfolgen, welche Motive sie im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre dafür gefunden hat. „Trembling Time“, die früheste Arbeit, mit der sie 2001 ihr Studium an der Rijksakademie in Amsterdam abschloss, zeigt ums Sechsfache ausgedehnt jene rituelle Schweigeminute in Israel, mit der der Toten gedacht wird. Auf einer mehrspurigen Straße in Tel Aviv verharren die Menschen stehend neben ihren Autos. Geisterhaft verdoppelt sich das Bild, über die Scheinwerfer legen sich nochmals Lichter, als würde sich das Jenseits tatsächlich melden.
„Redemption Now“ ist als Einladung gemeint, sich auf einen Seelentrip zu begeben. Versehrte sind wir alle. Das visualisiert schon der Einstieg mit animierten Figuren aus Otto Dix’ Gemälde „Kriegskrüppel“ (1920), von dem nur noch eine Druckversion in Schwarz-Weiß existiert. Bartana extrahierte die einzelnen Invaliden mit ihren Holzbeinen, Glasaugen, zerschossenen Gesichtern und lässt sie als unendliche Parade in die Ausstellungsräume hineinziehen.
Welche Erleichterung, bald vor den raufenden Jugendlichen zu stehen, die die Evakuierung einer jüdischen Siedlung simulieren. Sie spielen den Ernstfall: Soldat:innen versuchen die sich zusammenklammernde Gruppe auseinanderzuziehen. „Verräter“, ruft einer, „Ein Jude deportiert keinen Juden“ ein anderer. Und: „Der Messias kommt.“ Die Antwort ist ein Lachen. Eindeutigkeit gibt es bei Bartana nicht, nur das Angebot, in eine Rolle zu schlüpfen, ein Setting auszuprobieren.
Sie selbst hat sich drei Mal als der zionistische Vordenker Theodor Herzl porträtiert, mit Rauschebart und tiefem Blick. Dessen berühmtester Satz lautete: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen!“ Bartana denkt sich neue aus. Das Jüdische Museum spielt die Varianten durch.