Kazuo Ishiguro blickt in die Gefühlswelt einer Androidin
Klara ist solarbetrieben, von kindlicher Gestalt und ohne Frage ein Individuum. Zum Beispiel liebt sie Sonnenuntergänge, findet Privatsphäre wichtig und hält den von Baumaschinen produzierten Qualm und Lärm für rücksichtslose Umweltverschmutzung.
Ihre Geschichte erzählt sie in so gravitätischen Sätzen wie „Ich habe meine Erinnerungen, die ich sortieren und in die richtige Reihenfolge bringen will“, und in Sachen Mobilität würde man ihr gerne ein Upgrade verpassen, so behutsam muss sie ihre Füße auf den Schotter von Parkplätzen setzen.
Als sie sich einmal auf offenes Gelände wagt und prompt stecken bleibt, vergleicht ihr Begleiter ihre Hilflosigkeit mit der einer Fliege, „die immer wieder blindlings an die Fensterscheibe knallt“; sie nimmt es nicht persönlich. Und das, obwohl sie ein Roboter ist! Dass in jedem dieser Wesen ein Rebell steckt, der sich irgendwann gegen seine menschlichen Herren erheben wird, gehört seit Karel Capeks begriffsprägendem Stück „R.U.R.“ von 1920 quasi zum Grundwissen der Science-Fiction.
So überzeugend erscheint die Vorstellung vom unvermeidlichen Aufstand unserer Androiden und künstlichen Intelligenzen, dass selbst kluge Köpfe wie Stephen Hawking oder Elon Musk davor warnten, demnächst könnten sie die Herrschaft über die Menschheit an sich reißen. Als ob das Gegenteil nicht mindestens so unheimlich wäre: dass ein Roboter zwar über ein Ich und Gefühle, ja sogar wie Klara über einen Glauben verfügt, er aber trotzdem bereit wäre, alles für seine menschlichen Bezugspersonen zu tun. Und um den Preis der Selbstaufgabe noch unsere abseitigsten Wünsche erfüllen würde, einfach weil er es für seine „Pflicht“ hielte.
Man muss es wohl so sehen: KF Klara, Modellreihe B2, die Erzähler-Protagonistin aus Kazuo Ishiguros neuem Roman, ist eben keine Verwandte von dem Replikanten Roy Batty, der in „Blade Runner“ gewaltsam für die Achtung seiner Existenz sorgen wollte. Stattdessen ist die stets unverdrossen optimistische Klara eine Nachfahrin des aufopferungsvollen Butlers Stevens aus „Was vom Tage übrigblieb“, Kazuo Ishiguros berühmtestem Roman aus dem Jahr 1985. Und eine Art Cousine des sich in die eigene Organspende fügenden Klons Kathy H. aus „Alles, was wir geben mussten“, dem ersten, 2005 erfolgten Ausflug des britischen Autors ins Science- Fiction-Genre.
Zu Beginn von Ishiguros neuem Roman „Klara und die Sonne“, der leider nicht ganz an diese beiden Klassiker des Literaturnobelpreisträgers heranreicht, wartet die Ich-Erzählerin in einem Laden darauf, von einem Kind ausgesucht zu werden, um diesem, ihrer Bestimmung gemäß, als „Künstliche Freundin“ die Einsamkeit zu vertreiben. Da die Zeit drängt – die ersten „B3“-Modelle tummeln sich schon im Laden –, darf Klara das Geschäft im Schaufenster repräsentieren, ein paar Tage lang zumindest, zum Sonderpreis.
Ausgestattet mit einer, wie die Managerin feststellt, „außergewöhnlichen Beobachtungsgabe“, lernt das kleine Wesen von dort aus die Welt kennen: So staunt sie über die Freude einer „Kaffeetassendame“ und eines „Regenmantelherrn“, die sich beim zufälligen Wiedersehen in die Arme fallen. Oder freut sich, als die gütige Sonne den von Klara schon totgeglaubten „Bettelmann“, einen Obdachlosen, am anderen Morgen wieder gesund macht. Umso mehr ängstigt sie der Anblick eines Jungen, der seine „künstliche Freundin“ demonstrativ auf Distanz hält. Wie es wohl wäre, als KF von seinem Kind nicht geliebt zu werden?
[Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Roman. Blessing Verlag, München 2021. 352 Seiten, 24 €.]
Dieses Schicksal bleibt Klara zum Glück erspart. Denn die 14-jährige Josie, in deren Haushalt sie schließlich landet, schließt ihre KF so schnell ins Herz, dass man als Leser glatt die Warnung der Managerin vergisst, auf kindliche Versprechungen besser nicht allzu viel zu geben. Wie sich herausstellt, leidet Josie an einer möglicherweise tödlichen Krankheit. Eine Zeit lang denkt man, dies sei der Grund, warum sie – wie passend zu unseren Pandemiezeiten – von zu Hause aus Distanzunterricht bei „Bildschirmprofessoren“ erhält.
Die Klassengesellschaft der Zukunft
Tatsächlich aber erhalten in der von Kazuo Ishiguro nur in Andeutungen beschriebenen Zwei-Klassen-Gesellschaft der USA um das Jahr 2050 auch andere Elite-Kinder Privatunterricht, solche nämlich, die von ihren ehrgeizigen Eltern „gehoben“ wurden.
Weil aber aufgrund dieser mysteriösen „Genomeditierung“ die sozialen Kompetenzen auf der Strecke bleiben, werden extra „Interaktionsmeetings“ mit Gleichaltrigen veranstaltet, im Hintergrund diskret überwacht von den Müttern. In Josies Meeting geraten die Dinge vorübergehend außer Kontrolle, als einer der eingeladenen Teenager, um die Fähigkeiten von Josies neuer KF zu testen, diese einfach mal so durch die Gegend werfen will.
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Die Szene ist ein Sonderfall, denn zu den faszinierendsten Motiven in diesem Roman gehört der fast durchweg respektvolle Umgang der Menschen mit der Androidin. Statt ihr zu befehlen, bittet man sie um etwas. Dass es ihr freisteht, selbst zu entscheiden, ob sie etwa zu einem Ausflug mitkommen will, scheint außer Frage zu stehen, trotz gelegentlicher Verwirrung. „Du bist doch ein Gast?“, wird Klara etwa von der Mutter von Josies Freund Rick gefragt. „Oder soll ich dich behandeln wie einen Staubsauger?“
Einen Großteil seiner Spannung bezieht der Roman daraus, viele Fragen aufzuwerfen, die aber erst spät – und oft anders als erwartet – beantwortet werden: Warum zum Beispiel hat der „ungehobene“ Rick trotz seines Talents keine Chancen auf ein College? „Haben seine Eltern einfach … beschlossen, nicht mitzumachen? Die Nerven verloren?“, fragen sich die Elite-Mütter.
Große Zukunftsliteratur mit existentiellen Fragen
Woran ist Sal, Josies ältere Schwester, gestorben? Vermag Klaras eigenwilliger Glaube an die „gütige“ Sonne Josie zu heilen? Vor allem aber: Haben Menschen wirklich eine einzigartige Seele oder könnte man diese „extrahieren, kopieren, transferieren“, wie Josies Vater fürchtet? Und zu was allem ist das „menschliche Herz“ bereit, nur um der Einsamkeit zu entgehen?
„Klara und die Sonne“ stellt existenzielle Fragen, wie nur große Zukunftsliteratur es vermag. Interessant an Ishiguros weitgehend souverän komponiertem Roman sind aber auch erzählerische Details wie der Verfremdungseffekt, der immer dann eintritt, wenn die Komplexität menschlicher Emotionen Klara überfordert. Denn dann fraktioniert sich ihr Bild der Welt in simultan erscheinenden „Kästchen“, wie der Gesichtsausdruck von Josies Mutter, als diese sich an ihre verstorbene Tochter Sal erinnert: „Im einen Kästchen zum Beispiel war ein bösartiges Lachen in ihren Augen, und im nächsten waren sie voller Trauer.“
Am Ende ihres Weges wird die kleine Androidin, deren Empathie ihre Mobilität bei Weitem übersteigt, das „menschliche Herz“ durchschaut haben. Dass sie uns trotzdem nicht verurteilt, ist die tröstliche Botschaft des Romans.