Österreichische Dichterin Friederike Mayröcker ist tot

Ein dichterisches Lebenswerk, so mächtig, schillernd, überbordend und über alles Gängige erhaben, wird es in der deutschsprachigen Literatur so leicht nicht mehrgeben; ein so in sich versunkenes, ganz dem täglichen Exerzitium der Lektüre und des Schreibens hingegebenes Leben ist heute kaum mehr möglich. Von der medialen Zerfaserung, die unseren Tag bestimmt und unsere Konzentration ruinös unterwandert, konnte sich Friederike Mayröcker, die nach dem Krieg an einer amerikanischen Schreibmaschine vom Typ Hermes Baby den Dienst am Wort aufnahm, noch fernhalten – und hat doch eine hellsichtige Literatur für eine Welt geschaffen, in der man den großen Zusammenhang nicht mehr vorfinden, sondern nur noch aus einer Fülle von Fragmenten konstruieren kann.

„Das Bleibende sehen im Vergänglichen; die Anatomie der Dinge und aller Lebewesen´ erkennen und in Sprache verwandeln; eine Literatur der Zersplitterung (als Medium des Mitleids) schreiben“, so skizzierte sie ihr Vorhaben einmal in einer Preisrede, und vor allem dies: „das oberste Ziel nie aus den Augen verlieren :einer poetischen Wahrheit gerecht zu werden.“

Dass es der am 20. Dezember 1924 in Wien geborenen Friederike Mayröcker gelingen konnte, ihrer poetischen Wahrheit ein Leben lang auf der Spur zubleiben, verdankt sich ihrer Treue zu den vitalen Antrieben. Die Sommer ihrer Kindheit, die sie bis zum elften Lebensjahr auf einem Vierkanthof im niederösterreichischen Deinzendorf verbrachte, beschenkten sie mit den Urszenen ihrer sinnlichen Wahrnehmung, die durch das ganze Werk immer wiederkehren: den Schwalben, dem Fliederbaum, dem schon an die Dürre der nahen Puszta gemahnenden Ziehbrunnen.

Nächtelanges Husten schärfte ihren Sinn für die Hinfälligkeit des Körpers; eine schon das Kind erfassende Neigung zur Melancholie, von der die Dichterin einmal sagte, sie habe sie von ihrer Muttergeerbt, trieb sie dazu, den Sinn des Lebens nicht im Handeln, sondern in der Vergegenwärtigung erlebter Augenblicke zu suchen. Den Krieg erlebte sie wie hinter einem Schleier, in ihrem Schreiben fand dieser Einschnitt nie statt – anders als im Leben ihres Gefährten Ernst Jandl, der als Soldat die Härte der Zeit in sich aufnahm und sie im Schreiben wütend austrug.

1946 waren erste Mayröcker-Gedichte in der Zeitschrift „Der Plan“ erschienen. 1954 lernten sie sich kennen, beide arbeiteten als Englischlehrer, trennten sich von ihren Ehepartnern und begannen ihr legendäres Dichterleben, in zwei Wohnungen, mit konträrer Ästhetik und in unverbrüchlicher Zweisamkeit.

Sie schuf eine eigene Form des Erzählens

Sie hatten Kontakte zur Wiener Gruppe, hielten sich jedoch abseits und hatten wie alle Avantgardisten im reaktionären Nachkriegsklima der Alpenrepublik keine Chance auf Anerkennung. So betrat Friederike Mayröcker erst mit dem 1966 bei Rowohlt verlegten Gedichtband „Tod durch Musen“ die literarische Bühne. Die wuchernden, aus surrealen Einfällen und Zitaten kompilierten Langgedichte waren auf der Höhe der Zeit, so wie das mit Jandl verfasste Hörspiel „Fünf Mann Menschen“, für das sie 1968 den Preis der Kriegsblinden erhielt – die erste von vielen Auszeichnungen, unter denen der Büchner-Preis 2001 die bedeutendste war.

Den unverwechselbaren Mayröcker-Stil entwickelte sie aber erst, nachdem sie sich vom ungeliebten Lehrerberuf freimachen konnte. Mit dem Prosaband „Das Licht in der Landschaft“ eröffnete sie 1975 jene ins Endlose strebende Reihe ihrer Bücher im Suhrkamp Verlag, die sie auf Augenhöhe mit den Werken des von ihr verehrten Samuel Beckett brachte und sie für Generationen nachwachsender Dichter zur Ikone werden ließ. Sie schuf eine ganz eigene Form des angerissenen Erzählens, die anstelle einer Fabel die Aufzeichnung und Verwandlung der Augenblicke setzte.

Eben noch einer Erinnerung, einem Vogelruf, einer Verliebtheit nachsinnend, riss sie im nächsten Satz das Steuer herum, brachte Zitate aller Art, Funde aus der Lektüre und ihrer Korrespondenz, Traumnotate und seltsame Wortfunde als Störmanöver ins Spiel, zur Verfremdung und Verzauberung.

Ihre Bücher bilden einen großen Text

So konnte sie ihren Formidealen genügen und zugleich eine Ausforschung des Menschenlebens betreiben, wie sie nur der Literatur möglich ist. Eros und Tod, Welt und Bewusstsein, niemand hat in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Nachdenken über diese Grundpolaritäten so irritierendschöne Sprachgebilde geschaffen. Die Vereinigung des Disparaten, so schrieb sie einmal, sei das Innerste aller Kunst. Oft wird gesagt, ihre Bücher bildeten einen einzigen großen Text, doch gilt es einige hervorzuheben.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

In der Prosa besonders „Die Abschiede“ (1980), eine in der Rückschau und im Konjunktiv verhandelte Liebesgeschichte, und „Reise durch die Nacht“ (1984), das eine Zugfahrt von Paris nach Wien zum Ausgangspunkteiner weit ausholenden Reflexion über Altern und Schreiben nimmt. Das dem 2000 verstorbenen Ernst Jandl zugedachte Erinnerungsbuch „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005) verwandelt die Trauer in ebenso tief berührende wie hoch artifizielle Literatur. Ihre Gedichte bis 2003 liegen gesammelt vor, ein handlicher Auswahlband wäre ein Desiderat. Mit ihrem letzten, erst im vergangenen Jahr erschienenen Prosabuch “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete” wurde sie noch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Sie versprühte bis ins hohe Alter einen mädchenhaften Charme

Seit den fünfziger Jahren lebte Friederike Mayröcker in der Zentagasse 16 im Wiener Arbeiterbezirk Margeriten, nicht weit vom Naschmarkt. Bilder aus ihrer verwunschenen, vor lauter Büchern und Papierstößen nur für sie selbstüberschaubaren Wohnung sind in dem Dokumentarfilm „Das Schreiben und das Schweigen“ von Carmen Tartarotti festgehalten. Früher empfing sie dort ihre Besucher, später verabredete sie sich nur noch in Kaffeehäusern, wo sie stets schon vor der Zeit, immer ganz in schwarz gewandet, mit etlichen Beuteln und Handtaschen und dem unentbehrlichen Blutdruckmessgerät bewaffnet, bei einem Gläschen Marillensaft saß und wartete.

Eine Stunde lang war sie in ihrer ganzeinfachen, herzlich zugewandten Art zugegen und versprühte ihren bis ins hohe Alter mädchenhaften Charme, bis sie sich wieder zurückzog in ihre Wohnung, denn sie wollte immer nur eins: schreiben, „und dies möglichst ohne Unterbrechung und unverzagt, um in den Sog jenes Rhythmus zu kommen, der einem wunderbarerweise das Schreiben zum Leben macht und das Leben zum Schreiben.“ Nun ist Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren gestorben.