Zimmer im U-Bahn-Schacht, Grab für Mietpreise: Dokumentation begleitet Kunstkollektiv „Rocco und seine Brüder“
Ein Mann betritt ein blau-weiß lackiertes Dixieklo. Er trägt eine dunkelblaue Latzhose und eine Rolle Toilettenpapier unter dem Arm. Auf seine Umgebung achtet er nicht. Eine Szene, die sich so oder so ähnlich hunderte Male täglich in Berlin ereignet. Der Mann scheint sich auf den Boden zu hocken, dann fällt hinter ihm die Tür zu.
Statt eines Bauarbeiters auf dem Weg zu einem intimen Geschäft sehen zufällige Passant:innen hier einen Graffitisprayer auf dem Weg in den Berliner Untergrund.
Die Szene leitet die Dokumentation „Rocco und seine Brüder“ ein und zeigt das, was die gleichnamigen Berliner Aktionskünstler „urbanes Mimikry“ nennen. Einer der Künstler aus dem Kollektiv, der sich selbst als „Rocco“ vorstellt, erklärt: „Das Schöne an Berlin ist, dass die Menschen mit Scheuklappen durchs Leben laufen – und wir, sobald wir eine Warnweste anhaben, auf der Straße eine Daseinsberechtigung haben.“
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Das Dixieklo steht in dieser Szene über dem Notschacht eines U-Bahn-Tunnels. Auch sonst ist der Ort nicht zufällig gewählt: Direkt hinter dem Dixieklo ist das Ordnungsamt Charlottenburg, angeblich machen genau hier Mitarbeitende regelmäßig Raucherpause.
„Es macht Spaß, mit den Leuten zu spielen“, kommentiert Rocco das im Film. „Wenn da fünf, sechs Bauarbeiter mit Klopapier unter dem Arm nacheinander kacken gehen, gucken sie da nicht genau hin. Wenn ein Kind im Kapuzenpulli im U-Bahn-Tunnel verschwindet, ist das eine andere Sache.“
Viele Aktionen der Berliner Künstlergruppe bewegen sich im illegalen Bereich. Daher zeigt der Film die Beteiligten nur vermummt oder verpixelt. Mit Wurzeln in der Berliner Graffitiszene sorgt das Kollektiv etwa seit 2016 mit Kunstaktionen und Installationen im öffentlichen Raum international für Aufsehen. Das Ziel meist: radikale Provokation, aber durchaus auch Spaß.
Die Filmemacher Philip Majer und Lukas Ratius (Bunkhouse Film) zeichnen die Entwicklung des Kunstkollektivs nach: Von der reinen Graffiticrew hin zur Aktionskunst, weg von den Buchstaben hin zur Installation. Sie zeigen Aktionen wie ein symbolisches Grab für günstige Mietpreise im Kreuzberger Straßenpflaster, ein komplett eingerichtetes Zimmer im U-Bahn-Schacht und eine umgedrehte Bären-Flagge auf dem Dach des Schöneberger Rathauses. „Es geht natürlich um Sachen, die uns nerven“, sagt Rocco. „Und das sind eigentlich immer politische Themen.“
An „Rocco und seine Brüder“ habe sie vor allem der gesellschaftskritische Aspekt interessiert, erzählt Majer. Kennengelernt hätten sie die Künstler über Bekannte. „Wir haben relativ schnell festgestellt, dass wir ein bisschen auf einer Wellenlänge sind und das gut klappen könnte“, beschreibt Majer den Entstehungsprozess. Über ein Jahr hinweg trafen die Filmemacher die Künstler immer wieder, führten Interviews und sichteten Archivmaterialien.
Die Graffitiszene dokumentiert sich selbst
Entstanden ist eine Art Collage aus neu gefilmten Passagen und Szenen, die die Künstler selbst über die Jahre aufgenommen hatten. „Es ist mittlerweile generell so, dass die Graffitiszene sich selbst sehr gut dokumentiert und darstellt“, sagt Lukas Ratius.
Auf der Tonspur und und auch visuell greift der Film die Ästhetiken der Szene auf: Wackelnde Handkamerabilder wechseln mit Drohnenaufnahmen und Interviewschnipseln, in denen meist „Rocco“ das Geschehen kommentiert. Schnelle Musikbeats vermitteln ein Gefühl des Adrenalinstoßes, den die Künstler bei ihren Aktionen erleben.
„Rocco und seinen Brüdern“ geht es, anders als vielen Graffitikünstler:innen, weniger um das finale Werk. Natürlich spiele das Ego stets eine Rolle, sagt Rocco in der Dokumentation. Fast noch wichtiger sei ihm aber der Kick und der Weg hin zum fertigen Werk. Dabei nimmt er in Kauf, dass mal etwas schiefgeht. Er sei schon drei Mal von einer Starkstromleitung getroffen worden, erzählt Rocco. Bekannte hätten Aktionen teils nicht überlebt.
Der Film zeigt, mit welcher Akribie die Künstler sich vorbereiten. Man sieht Rocco, wie er mit Maßband und Bauplan in der Hand einen U-Bahnzug vermisst, Baureihen auf Wikipedia vergleicht. Er spricht von Nächten, die er in Büschen hockt, Sicherheitsleute auskundschaftet und nennt das „taktische Finesse“. Das Problem sei, dass man immer noch krasser, noch aufwendiger werden müsse, um das vorherige Erfolgserlebnis toppen zu können.
Genau darum ging es auch den beiden Filmemachern: Sie wollten einfangen, „was drumherum so passiert“, sagt Philipp Majer. Dabei hätten sie Kritik an den Aktionen und der illegalen Graffitiszene generell bewusst ausgespart. Ratius sagt: „Wir fanden es spannender, uns nur mit dem Mikrokosmos zu beschäftigen, in dem sich das Kollektiv bewegt.“
In genau diesen Mikrokosmos gibt die Doku bislang unbekannte Einblicke. Sie hinterlässt ein Gefühl dafür, was das Künstlerkollektiv bewegt – und warum es eine Rolle spielt, wer wie den öffentlichen Raum gestaltet. Berlin sei ein Spielfeld, sagt Rocco. Das sieht sicherlich nicht nur er so.