Mozart mit Seeblick

Kunst, könnte man sagen, ist dann gelungen, wenn sie zum Ausgangspunkt wird eines im Prinzip unendlichen Fortspinnens von Gedanken und Assoziationen, eines bergwerksartigen Schürfens nach immer noch mehr Erkenntnis. Da sitzt man also im Hof des Rheinsberger Schlosses, zur ersten Premiere der diesjährigen Kammeroper-Saison, fest im Glauben, Mozarts „Entführung aus dem Serail“ im Großen und Ganzen zu kennen.

Und dann tritt Schauspieler Christian Dieterle auf und demonstriert erst mal, was man eigentlich alles nicht weiß. Dieterle hält einen Vortrag, über den möglichen Ort des Geschehens – wahrscheinlich in Algerien –, über die Geschichte der Sklaverei und die Heuchelei der Christen, über die Architektur osmanischer Paläste und das komplexe Verhältnis des Islam zum Alkohol.

Er zitiert Casanova, der einen Pascha besucht und hinter der Bücherwand ein Weinlager entdeckt, oder Lady Mary Wortley Montagu, die 1717 berichtet: „Ein türkischer Palast ist schwerer zu beschreiben als jeder andere, weil er unregelmäßig gebaut ist. Es gibt nichts, was nach einer Front oder Flügeln aussieht.“

Eine Freude: Dirigent Werner Ehrhardt

Lauter Wissensbrocken, die im Kopf ihr Eigenleben führen. Zu diesem Zeitpunkt ist noch wenig Musik erklungen, und doch lässt man sich das Ganze gerne gefallen, wegen Dieterles dunkel-sonorer Stimme und weil es einfach wahnsinnig interessant ist. Und weil immer dann, wenn es der Rede zu viel zu werden droht, die Oper doch zu ihrem Recht kommt.

Brad Cooper huscht als Belmonte schon die ganze Zeit im Hintergrund zwischen den Skulpturen und dem glitzernden See hin und her, seine Konstanze suchend. Die Kammerakademie Potsdam sitzt in der Ecke, verdeckt also nicht den Blick auf den See, große Teile des Hofs können auf diese Weise als Spielfläche genutzt werden.

Und das Publikum sitzt quasi mittendrin, geht auf Tuchfühlung mit dem Geschehen, die Stimmen streichen so nah am Ohr vorbei, wie das in einem konventionellen Opernhaus niemals möglich wäre – und plötzlich zeigt sich Neues, kann man etwa das großartige Quartett („Ach Belmonte! Ach, mein Leben“), das Mozart für das Finale des zweiten Akts geschrieben hat, erstmals wirklich schätzen.

Dazu kommt: Werner Ehrhardt zuzusehen, ist eine Lust. Der Alte-Musik-Spezialist und Gründer des Kammerorchesters Concerto Köln gehört zu jener Spezies Dirigenten, die sich von der Musik körperlich durchströmen lassen, die ihre Freude, ihren Spaß daran für alle sichtbar ausstellen: Er lacht, grinst, singt mit, ohne dass es ins Peinliche oder Lächerliche kippen würde. Die Akustik im Schlosshof ist trotz der offenen Flanke zum See hin hervorragend.

Perfekte Bühne: die preußische Architektur und der See

Die wohltuend nüchtern-preußische Architektur des Schlosses, das Drama der Natur, das sich am Horizont abspielt, die Wolkenballungen, die gleißende, langsam sinkende Sonne, die Rufe der Flugenten über dem Wasser, dazu Mozarts herrliche Musik und die Akzente, die ein paar aufs Minimum reduzierte Kulissen und historisierende Kostüme (Barbara Krott) schaffen – das alles vermengt sich zu einem feinen, ja zauberhaften Abend. Clou von Regisseur und Kammeroper-Direktor Georg Quander: Kommentator Christian Dieterle entpuppt sich bald als Bassa Selim selbst. Dieser hat ja bekanntlich sowieso eine Sprechrolle, sie auszubauen, ist durchaus sinnvoll.

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Zwei gleichwertige Besetzungen aus Preisträgern der Kammeroper gibt es, am Samstag sticht vor allem Changjun Lee heraus, der einen gleichermaßen furcht- wie mitleiderregenden Osmin singt, dessen kerniger Bass von den Wänden des Schlosshofs widerhallt, der sich unerschrocken in einen Brunnen fallen lässt und dann, bei sinkenden Temperaturen, noch eine Viertelstunde in nassem Kostüm weitersingt, bevor er sich endlich umziehen darf.

Ein äußerst gelungener Abend

Die Figur des Belmonte darf getrost den Don-Ottavio-Preis für die langweiligste Mozart-Rolle entgegennehmen, insofern hat Brad Cooper einen undankbaren Job. Er knödelt etwa zu Beginn, bevor sich seine Stimme glättet. Gregor Drake spielt mit blaublitzenden Augen einen attraktiven, listigen Pedrillo, sieht sich allerdings in den Höhen vor Herausforderungen gestellt.

Die Damen brillieren: Sophie Bareis als auch in der „Marter aller Arten“-Arie gefasste, ja majestätische Konstanze, Jihyun Kang als umtriebige schwarzhaarige Blonde, die allerdings gerade in den Sprechpassagen an der Verständlichkeit ihrer deutschen Sprache arbeiten muss.

[Nächste Aufführungen: 12., 13., 15.-17. & 19. Juli, kammeroper-schloss-rheinsberg.de]

Glück und Leid von Open Airs: Das Quartett beschließt den zweiten Akt, wird aber zum Finale des Stücks. Kein Regen, aber die Temperaturen machen der Aufführung den Garaus, das Orchester sorgt sich um seine Instrumente, der dritte Akt wird abgesagt. Ein schmerzvoller, kalter Entzug. Gerne hätte man den bis dahin äußerst gelungenen Abend abgerundet gesehen und gehört. Umso mehr Grund, eine der noch verbliebenen Vorstellungen zu besuchen.