Worte gegen Kugeln
Regent Park ist die älteste und größte Sozialsiedlung Kanadas. Im Süden Torontos gelegen, entstand sie Ende der vierziger Jahre auf dem Areal eines einstigen Slums und entwickelte sich zu einer der gefährlichsten Gegenden der Stadt.
Nun wird sie allmählich gentrifiziert, doch als der 1996 geborene Mustafa Ahmed hier aufwuchs, prägten noch Gewalt und Gangkriege die Gegend. Mehrere seiner Freunde starben. Einer von ihnen war Ali Rizeig, der 2017 bei einer Schießerei in Regent Park ums Leben kam. Er wurde nur 18 Jahre alt.
Als Teenager begann er, Gedichte zu schreiben
Ihm hat Mustafa Ahmed nun den Song „Ali“ gewidmet, der sich auf seinem gerade erschienen Debütalbum „When Smoke Rises“ (Regent Park/Beggars) befindet. Zu schnell gepickten Akustikgitarren und einem hintergründig pochenden Beat singt er immer wieder lang gezogen seinen Namen, erinnert sich an gemeinsame Träume und Nächte. „Ali/ You know our hearts are at their fullest/ Ali/ There were no words to stop the bullets“ lauten die zentralen mehrmals wiederholten Zeilen.
Worte können keine Kugeln stoppen, doch sie sind alles, was Mustafa Ahmed hat. Mit ihnen hält er Erinnerung an seine toten Freunde wach. „Es ist ein Liebesbrief an meine Brüder“, schreibt der 24-Jährige im Booklet seines Albums, das nach dem 2018 vor einem Nachtclub in Toronto erschossenen Rapper Smoke Dawg benannt ist. Schmerz und Verzweiflung durchdringen alle mit großer Zärtlichkeit vorgetragenen Zeilen.
In seine Trauerarbeit bezieht der Sänger, der nur unter seinem Vornamen auftritt, die Familien und die ganze Nachbarschaft ein. Immer wieder tritt er in seinen Liedern als mahnende und warnende Instanz auf. Programmatisch fleht er die Jugend schon im Refrain des Eröffnungssongs „Stay alive“ an, bitte einfach nur am Leben zu bleiben.
Das dazugehörige Video zeigt ihn umgeben von jungen Leuten vor den niedrigen Backsteinbauten von Regent Park, an denen zahlreiche Satellitenschüsseln und Überwachungskameras befestigt sind. „These cameras and cops/ We could’ve been stars/ On our mother’s news screens/ On our mothers’s news screens.“
Dass aus Mustafa kein Star der Polizeinachrichten geworden ist, sondern die „New York Times“, der „Rolling Stone“ und der „New Yorker“ über ihn berichten, hat entscheidend mit seiner älteren Schwester Namarig zu tun, die ihn Mitte der nuller Jahre dazu ermutigte, Gedichte zu schreiben.
Was er so gut machte, dass er als Teenager zu einer Lokalberühmtheit wurde und Ministerpräsident Justin Trudeau ihn in seinen Jugendrat berief. Von dem Politiker möchte Mustafa heute nichts mehr wissen. Seine Hoffnungen auf Verbesserungen für Regent Park wurden enttäuscht.
Stattdessen entwickelte er sich selbst zu einem Mentor, einer Art Sozialarbeiter und großem Bruder für seine Gemeinschaft. Das scheint auf dem Album deutlich auf, etwa in „Air Forces“, wenn er einem Freund, der entgegen seinem Rat nachts auf die Straße geht, versichert, dass er für ihn wach bleiben wird: „Just know that I care/ I’ll always care and I’ll be awake“.
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Der Song enthält ein Sample von rituellen Gesängen aus dem Sudan, was auf Mustafas Herkunft verweist. Seine Eltern emigrierten Mitte der Neunziger aus dem ostafrikanischen Land nach Kanada, Mustafa ist das zweitjüngste von sechs Kindern.
Die Familie hatte mit Armut zu kämpfen und mit Islamfeindlichkeit, die auch von der schon länger in Regent Park ansässigen karibischen Community ausging. Mustafas Vater gründet eine Moschee, in der der Sänger, der heute teils in L.A lebt, als Kind viel Zeit verbrachte. Sein Glaube ist ihm bis heute wichtig und er zeigt ihn unter anderem mit seiner Kleidung und auch mit „When Smoke Rises“, auf dessen Booklet-Rückseite Allah auf Englisch und Arabisch angerufen wird.
Musikalisch orientiert sich Mustafa, der das Hip-Hop-Kollektiv Halal Gang mitgründete, an Singer- Songwritern. Das mag zunächst etwas überraschend erscheinen, doch als Jugendlicher hörte Mustafa neben Rap immer auch schon Musiker*innen wie Joni Mitchell, Richie Havens oder Cat Stevens.
Große Bedeutung hatte sein Landsmann Leonard Cohen. In einem Interview mit dem Internet-Magazin „Pitchfork“ erinnert Mustafa sich, dass er damals dachte: „Ich kann das Sprachverständnis dieses weißen Mannes auf eine Gemeinschaft anwenden, der das vorher vielleicht nicht geboten wurde.“ Während der Aufnahmen zu seinem Debütalbum beeindruckte ihn ein anderer weißer Kollege: Sufjan Stevens, der auf „Carrie & Lowell“ 2015 den Tod seiner Mutter verarbeitete und damit zu seinen Indie-Folk- Wurzeln zurückkehrte.
So ist „When Smoke Rises“, das wie ein urbanes Singer-Songwriter-Album klingt, auch eine souveräne Aneignung und eine Statement gegen klischeehafte Genrevorstellungen. Sparsam, größtenteils akustisch instrumentiert, mit dezenten Beats und Sprachsamples von Mustafas Freunden. Bei der Produktion geholfen haben drei Briten: Sampha, James Blake und Jamie XX. Sie bedienen diverse Instrumente und Geräte, Sampha singt auch mal mit. An seine sowie an James Blakes feinnervige Soundwelten muss man beim Hören der acht Songs öfter mal denken.
Mustafas Gesang ist in seiner Zerbrechlichkeit absolut ergreifend. Und selbst wenn er in „The Hearse“ plötzlich von seiner Sanftmut abweicht und Rachegelüste zeigt, bleibt man auf seiner Seite. Er ist schließlich kein Heiliger. Dass sich Wut in seine Trauer mischt, zeigt die Menschlichkeit dieses Ausnahmetalents.