Ruhm und Risiko
So, wie sie ihre Künstlergarderobe verlässt, das Tuch widerwillig um die Schultern gerafft, die Haare aufgebracht wie Gewitterwolken, kündigt sich ein Drama an. Auf dem Weg zur Bühne fühlt sich Martha Argerich plötzlich von Fieber heimgesucht. Ein schlechter Tag, um aufzutreten. Heute kann man unmöglich Musik machen. Die Umblätterin bleibt stoisch an ihrer Seite, der Inspizient öffnet mit einem routinierten Toitoitoi die Bühnentür. „Ich will nicht“, sagt die größte lebende Pianistin noch, tritt mit diesen Worten ins Scheinwerferlicht, in den Applaus. Kurz darauf vibriert der Flügel unter ihren Händen.
Martha Argerichs legendäre Nervosität vor dem Auftritt hat Tochter Stéphanie in ihrem Dokumentarfilm „Argerich – Bloody Daughter“ von 2012 festgehalten. Er ist das berührende Porträt einer Familie, die nie Zeit hatte, eine zu sein. Drei Töchter von drei Ehemännern, immer auf Tournee und unendlich verliebt in Robert Schumann, bleibt Martha Argerich selbst für ihre Kinder immer auch Mysterium. „Ich bin die Tochter einer Göttin“, sagt Stéphanie. Das, so ahnt man, kann kurzweilig sein – berechenbar aber ist dieses Leben nicht.
Mit Barenboim spielt sie als Kind – unter dem Flügel
Am 5. Juni 1941 wird Martha Argerich in Buenos Aires geboren, anderthalb Jahre vor ihrem Freund Daniel Barenboim. Mit ihm spielt sie als Kind unter dem Flügel, erst spät in ihrer Karriere, dann aber mit erstaunlicher Regelmäßigkeit, finden sie an der Tastatur zusammen. Ihre Berliner Auftritte sind ein Nervenkitzel für die Zuhörenden, weil hier zwei ebenso eigenwillige wie letztlich schwer vorhersehbare Persönlichkeiten aufeinandertreffen. Sicher auch, weil man einmal erleben möchte, wie Barenboim von dieser „Löwin am Klavier“ (wie auch die Argerich-Biographie von Olivier Bellamy heißt) in die Schranken gewiesen wird, sich ihrem vulkanischen Temperament ergeben muss. Auch diese Erwartungshaltung wusste „La Martha“ bislang erfolgreich zu umspielen.
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Sie ist ein musikalisches Wunderkind und dazu eine Persönlichkeit, der man nichts abschlagen kann. Damit sie in Wien die einzige Schülerin des verehrten Friedrich Gulda werden kann, verschafft Staatspräsident Juan Perón den Eltern Stellen in der dortigen Botschaft. Mit 16 gewinnt Argerich internationale Wettbewerbe, die Welt steht ihr offen. Doch die Krise wird zu ihrer engsten Begleiterin, sie lässt Plattenverträge und Auftritte platzen und zieht nach New York, um der Nähe ihres Idols Horowitz zu sein. Dann wieder verzaubert Argerich mit Neugier und Mut, die keine Gewöhnung, keine Abnutzung kennen. Nach dem Sieg beim Chopin-Wettbewerb 1965 entsteht eine ihrer legendären Aufnahmen, Liszts Es-Dur-Konzert erscheint zu ihrem 80. Geburtstag digital überarbeitet.
Um ihrer Nervosität ein Gegenüber zu geben und um Räume zu schaffen, die von Künstler:innen selbst bestimmt werden, spielt Martha Argerich beinahe ausschließlich mit Freunden und gründete Festivals in Japan und in der Schweiz, wo sie mit jungen Musiker:innen auftritt. Ab dem 19. Juni will sie ein Festival in Hamburg feiern, Daniel Barenboim schaut auch vorbei.