Wer konnte, übte ein Tor mit dem Hinterkopf zu erzielen – so wie Uwe
Wer kennt die Szene nicht? Uwe Seeler 1966 nach dem verlorenen WM-Endspiel gegen England in Wembley: Er geht mit hängendem Kopf und schweren Schritten vom Platz. Und trotzdem als Held. Als Sportsmann, wie er im Buche steht. Nun hat das Leben sein letztes Kapitel zugeschlagen. „Uns Uwe“ ist mit 85 Jahren gestorben. Beliebt bei Freund und Gegner war er.
Wer konnte, übte ein Tor mit dem Hinterkopf zu erzielen, so wie Uwe Seeler 1970 bei der WM in Mexiko zum 2:2-Ausgleich gegen England. Danach war es für die deutsche Elf noch nicht zu Ende – es folgte das Jahrhundertspiel gegen Italien. Aber da war Seeler schon endgültig, für immer, Legende.
Seine letzte Weltmeisterschaft spielte der Hamburger mit über 30, nach dem Rücktritt 1968 zurückgeholt von Bundestrainer Helmut Schön – und war die Entdeckung. Einer der wertvollsten Spieler wurde er nach dem Turnier genannt. Wieder einmal. Ja, die Hamburger und ihr Uwe. „Uns Uwe“, riefen sie, norddeutsch verknappt. Ihr Uwe. Gut, nicht alle, nicht die Paulianer, die riefen „Euch Uwe“.
Und Seeler war besonders, das konnten alle sehen, auch auf St. Pauli. Ein anständiger Kerl, bodenständig, geradeaus, ehrlich. Nur ein einziges Mal vom Platz gestellt; nachdem er gefoult worden war. Ein Schlitzohr war Seeler bestimmt auch, und nicht immer nett, ein Mitspieler von damals hat das gesagt. Aber wer ist das schon, oder?
Seeler traf und traf und traf – egal bei welchem Wetter
Komme was wolle, Regen oder Wind, wenn Uwe konnte, spielte er. Und traf. Und traf. Aus allen Lagen. Und wenn er nicht konnte – nach dem Achillessehnenriss Mitte der Sechziger –, dann arbeitete er härter als hart daran, dass er sechs Monate später wieder konnte. Das Stadion war sein Zuhause, und an ihm konnte jeder sehen, wie weit man mit Arbeit und Willen kommt.
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Seine gesamte Karriere über war Uwe Seeler beim Hamburger Sport-Verein, dem Verein mit der Raute. Wobei: Ein Spiel hat er in der irischen Liga absolviert, sechs Jahre nach dem endgültigen Rücktritt 1972, für Cork Celtic, gewissermaßen aus Versehen; es soll auf Bitten von Adidas gewesen sein. Seeler arbeitete seinerzeit schon für den Sportartikelhersteller, fuhr bis zu 70.000 Kilometer jährlich im Auto durchs Land. Auch für Cork traf er, zweimal. Einmal, natürlich, per Fallrückzieher.
„Es gibt zweifellos spielerisch weitaus bessere Spieler“, sagte Sepp Herberger, sein erster Nationaltrainer, der ihn schon als ganz Jungen einsetzte, „aber keiner besitzt das Talent wie Uwe Seeler, auf engstem Raum gegen die stärkste Bewachung so viel Wirkung zu erzielen.“ Allein 404 Tore in 476 Spielen für seinen HSV, das war beispiellos zu seiner Zeit. Danach war es dann nur Gerd Müller, der solche Wirkung erzielte.
Einer der besten Mittelstürmer der Welt, der beste Europas
Zu seiner großen Zeit war Fußball noch kein Rasenschach. „Rundes muss in Eckiges“, sagte Tschik Cajkovski – der für den 1. FC Köln spielte und den er später als Trainer zum Meister machte –, und das war’s. Rein ins Eckige, dafür war Seeler zuständig, „der Dicke“, knapp 1,70 Meter, stämmig und mit früh gelichtetem Haar. Einer der besten Mittelstürmer der Welt, der beste Europas. Uwe Seeler, der Fuß der Nation – übrigens heute zu sehen vor dem Volksparkstadion in Bronze, vier Tonnen schwer, ein Riesending, ihm zu Ehren.
Seeler wurde Volksliebling daheim und darüber hinaus, Fußballer des Jahres, nach Fritz Walter der zweite Ehrenspielführer der Nationalelf, Ehrenbürger. Ehrenkapitän sowieso. Und der erste Sportler, der mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.
Man konnte sich ja auch mit ihm identifizieren: Speditionskaufmann von Beruf, zeitweilig im Außendienst im Hafen, der Vater „Old Erwin” Hafenarbeiter und auch schon bekannter Fußballer, wie der jüngere Bruder Dieter, alle beim HSV.
In allen Stadien in Deutschland erschallten die „Uwe, Uwe“-Rufe. So beliebt war der Hamburger. „Uwe hat genau in seine Zeit hineingepasst. Uwe hat geschuftet, geschafft, geackert. Dass, was die Menschen in Deutschland getan haben, hat er auf dem Fußballplatz gezeigt“, erklärte es die Reporter-Legende Rudi Michel.
Hamburg bangt – verlässt „Uns Uwe“ etwa die Stadt?
Und dann 1961: Seeler wird gelockt von Inter Mailand. 1,2 Millionen D-Mark werden geboten, eine astronomische Summe. Heute wären es wahrscheinlich 120 Millionen Euro. Oder wenigstens fast. Die Fans sind in Aufruhr. Sein langjähriger Freund Adi Dassler bietet ihm die Adidas-Vertretung für Norddeutschland an, damit er bleibt. Hamburg bangt. Seeler, der nichts je ohne seine Frau Ilka entschieden hat, mit der er mehr als 60 Jahre innig verbunden war, entscheidet sich – fürs Bleiben. Hamburg jubelt.
Uwe Seeler absolvierte 72 Länderspiele, das war Rekord damals, und schoss 43 Tore. Das ist die höchste Torquote aller deutschen Spieler mit mehr als 70 Länderspielen. In vier Weltmeisterschaften eingesetzt, traf er bei jeder, wie Pelé, Miroslav Klose und Cristiano Ronaldo. Seeler war der erste Spieler mit mehr als 20 WM-Spielen. Sein Rekord von 21 Spielen wurde erst 1998 von Lothar Matthäus überboten. Und er hätte heute mehr als 150 Länderspiele. Zuletzt ging es ihm nicht mehr so gut, nach Treppenstürzen und Rippenbrüchen und Schnittwunden. Aber geklagt hat er nie. Zu seinem 85. sagte Uwe Seeler, dass er glücklich und zufrieden sei. „Mein Leben war wunderbar.“ Und dazu dann diesen wunderbaren Satz: „Das Schönste, was es auf der Welt gibt, ist normal zu sein.“ War er, „Uns Uwe“, und Idol, Ikone, Sportsmann.