Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (85): Handschuhe, Mützen und eine lange Schlange
19. 11. 2022
Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Fehler handelt, ist gering – das Thermometer auf meiner Fensterscheibe sowie die Wetter-App in meinem Handy behaupten, die Temperatur draußen liege bei minus drei Grad.
Ich mache die Balkontür auf und dann gleich wieder zu. Das reicht, um festzustellen: Leider ist der Winter tatsächlich da. Ich suche nach den Handschuhen, irgendwo müssen sie seit Monaten rumliegen. Da sind sie – schwarzgrau, aus Kunstwolle, solche Handschuhe gibt’s wahrscheinlich in jedem Billigshop der Welt für zwei Euro.
Meine kaufte ich in einem Laden um die Ecke von Krokus, dem Hostel in der Perschotravneva-Straße in Popasna, wo ich im November 2020 drei Wochen mit den Theatermachern des deutsch-ukrainischen Projekts Misto To Go verbrachte. Schon bei ähnlichen Temperaturen wie heute in Berlin war es richtig kalt – diese Kälte war fies, sie ging sofort bis in die Knochen.
Jeden Morgen um 7:30 Uhr stiegen wir in den Schulbus mit der kaputten Heizung und fuhren eine Stunde nach Trojitske und dann nachmittags eine Stunde zurück nach Popasna. Meine Handschuhe hatte ich zu Hause in Berlin liegen lassen und brauchte unbedingt neue. Ich hoffte, sie würden überhaupt bis zum Ende meiner Reise halten, aber sogar heute sind sie in erstaunlich gutem Zustand, stelle ich fest.
Krokus wurde dagegen von russischen Raketen komplett zerstört – so wie der Laden um die Ecke, so wie der Supermarkt Semja auf der anderen Straßenseite, wo wir immer eingekauft haben, und das Café Cappuccino links davon, da habe ich jeden Abend den Fitness-Salat bestellt. Von Popasna ist kaum etwas geblieben, schreiben mir die Kids, mit denen wir 2020 unsere„New Donbass Symphony“ aufgenommen haben – inzwischen sind sie zerstreut, Charkiw, Dnipro, Tscherkassy, Bautzen, Oberseifersdorf …
Gestern meldete sich Olena bei mir, einer der letzten Menschen aus russland, mit denen ich noch Kontakt habe. Sie ist für zwei Tage in Berlin, wir verabreden uns in einem Café in Mitte. Wie ich kommt Olena aus Charkiw, wir waren in der gleichen Schulklasse und lebten nicht weit voneinander entfernt. Zurzeit ist sie für zwei Monate in einer Künstlerresidenz in Georgien. Eingereist ist sie, einen Tag nachdem in russland die Mobilmachung erklärt wurde.
Olena zeigt mir Bilder in ihrem Handy, die sie an der russisch-georgischen Grenze geschossen hat, darauf ist eine endlose Schlange zu sehen – Männer, die sich weigerten, in die mörderische Armee eingezogen zu werden. Manche hier in Deutschland möchten sie als Märtyrer, als Dissidenten sehen, aber wo waren sie in den letzten Jahren, haben sie gegen den Krieg protestiert, der ihr Land 2014 begonnen hat, möchte ich fragen, tue es aber nicht. Mir ist bewusst, dass Olena keine Antwort darauf hat.
Die Schlange war 20 Kilometer lang, erzählt sie, man musste bis zu fünf Tagen anstehen. Auf den Fotos sehe ich erschöpfte Männer, und auf der anderen Seite eine spontane Demo junger Georgier, die von der Perspektive, Tausende russische Flüchtlinge aufzunehmen, offensichtlich nicht begeistert sind. „russische Deserteure, ihr seid nicht willkommen!“ steht auf ihren Plakaten.
Ich weiß noch, wie Olena vor zwei, drei Jahren behauptete, der ganze Westen leide an latenter Russophobie, sie habe sie oft gespürt, meinte sie. Interessant, heute ist das kein Thema. „Du kannst dir nicht mal vorstellen, wie viele russen gerade in Tbilisi sind“, sagt sie, „so gut wie alle, die ich kenne, haben Moskau verlassen.“
Ich frage, wie es ihren Eltern geht, die noch in der gleichen Wohnung in Charkiw sind, wo auch Olena gewohnt hat, als wir noch zur Schule gingen. Die beiden sind über 80 und wollen auf keinen Fall weg, obwohl sie es öfter vorgeschlagen hat – und auch versichert, sie würde alles organisieren. Sie skypen täglich, und der Vater tut sein Bestes, um beim Telefonat fröhlich zu wirken. Manchmal vergisst er, seine Wollmütze abzunehmen. Es ist kalt und die Heizung geht nicht immer. Aber darüber möchte er nicht sprechen.
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