Zum Tod von Jean-Marie Straub: Alles zerschlagen, um neu aufzubauen

„Literatur hat mich schon immer gelangweilt, und ich lese immer weniger. Die Literatur ist mir egal! Einen Roman oder ein Theaterstück zu adaptieren, interessiert uns nicht.“ Um Jean-Marie Straub zu verstehen, muss man diese Aussage lesen, ohne zusammenzuzucken.

Denn wer mit seinem Werk vertraut ist, weiß, wie sehr seine Filme, die er größtenteils mit seiner 2006 an Krebs verstorbenen Lebensgefährtin Danièle Huillet entwickelte, auf Texten, Essays, Theaterstücken und Romanen basieren. Sie durchzogen die Filme auf eine so einzigartige, unmittelbar wiedererkennbare Weise, sie wurden so lange bearbeitet und moduliert, bis es plötzlich erschien, als könne ein Alexandriner des Dramatikers Pierre Corneille oder ein Vers von Hölderlin erklingen – beziehungsweise im widerstrebenden Glanz eines modernistischen Kurzschlusses leuchten.

Straub-Huillet gestalteten das europäische Gedächtnis neu

Am Sonntag starb Jean-Marie Straub im Alter von 89 Jahren in Rolle in der Schweiz, dem letzten Wohnort von Godard. Man weiß nicht genau, ob sie sich jemals trafen und im Kebab an der Ecke gegen den Lauf der Welt wetterten. Brecht, Böll, Kafka, Mallarmé, Pavese, Montaigne … Genau wie Godard, aber mit einer fast umgekehrten Modalität (wo der in „Außer Atem“ Schnipsel kopierte und einfügte, hielten Straub-Huillet immer an der Integrität der verwendeten Texte fest) hat das Paar einen Teil des intellektuellen Gedächtnisses der Europäer neu gestaltet.

„Es geht um einen Prozess der Enteignung des Buches, der geschriebenen, gedruckten Seite“, beschrieb Straub einmal ihren Ansatz. „Es ist ein Versuch, zu einer früheren Kultur zurückzukehren. Zu einer Kultur, in der sich Menschen am Feuer Geschichten erzählten.“ Aber das funktioniert nur, wenn das Feuer brennt. Wir sind hier nicht in Hausschuhen und halten kein Glas Cognac in der Hand.

Das französische Regieduo Danièle Huillet und Jean-Marie Straub im Jahr 1996.
Das französische Regieduo Danièle Huillet und Jean-Marie Straub im Jahr 1996.
© Foto: Antonia Weisse

In „Othon – Sagen Sie’s den Steinen“ sind die Schauspieler Laien, ihre Muttersprache ist nicht Französisch. Die Filmemacher baten sie mit sadistischem Hintersinn, Corneilles Tiraden auswendig zu lernen. Sie tragen diese in Roben, mit Akzent und in einer etwas verrückten Sprechgeschwindigkeit vor dem Hintergrund des Straßenlärms in Rom vor. 1969 verblüffte dieser Film. Die Kritik war sich damals nicht einig, ob es sich um Avantgarde-Genies oder um einen Schwindel handelte.

Sieht man den Film heute wieder, ist man mit der gleichen Schleifkraft konfrontiert: die Fähigkeit, die eigene Macht nicht als Entfesselung (das Kino als komatöse Faszination), sondern als extraluzide Übung (der Film als kritische Maschine) auszuüben. Es braucht Rückkopplung, Widerstand, Widersprüche, während man gleichzeitig kategorisch auf die Einheit des Ortes, auf die Aufnahme in der Kontinuität der Plansequenz besteht: „Unsere Filme, das ist Materie!“

Alles auf die Gefahr hin, nicht beachtet, nicht verstanden, nicht bewundert zu werden – oder außerhalb des internationalen Kreises eines Hardcore-Fanclubs kaum Verbreitung zu finden. „Wir haben immer Cocteaus Moral kultiviert: Was man dir vorwirft, kultiviere es selbst.“ Straub, stets an seiner Zigarre kauend, nahm kein Blatt vor den Mund und ließ in Interviews oder Debatten nach der Vorführung nie eine Gelegenheit aus, sich im Zorn eines ewigen Dissidenten zu ereifern, der gegen die Bourgeoisie, die Zerstörung des Planeten durch den räuberischen Konsumismus und die Verblödung der Massen unter der Fuchtel der Unterhaltung wetterte.

Keine Komplizenschaft mit der Folter in Algerien

Jean-Marie Straub wurde am 8. Januar 1933 in Metz geboren und landete im November 1954 in Paris. Dort lernte er Danièle Huillet kennen und schlug ihr vor, an dem Film „Chronik der Anna Magdalena Bach“ (1967) mitzuarbeiten. Er bewegte sich in der Galaxie der Nouvelle Vague und tat sich mit Jacques Rivette, François Truffaut und Jean-Luc Godard zusammen. 1958 verweigerte er die Einberufung zum Militärdienst in Algerien „und damit die direkte Komplizenschaft mit der institutionalisierten Folter“. Dieser Akt der Kriegsverweigerung macht ihn zu einem Geächteten, der Frankreich verlassen und für elf Jahre ins Exil nach München gehen musste.

Dies erklärt auch die Missverständnisse in der Wahrnehmung einer weitgehend deutschsprachigen Filmografie, die streng genommen nicht in die Entstehung des Neuen Deutschen Kinos eingebettet ist und sich in den 1970er Jahren um Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders oder den Straub-Huillet näher stehenden Werner Schroeter entfaltete. Der spätere Umzug nach Rom setzt diesen Weg der Verwurzelung und Entwurzelung fort. Die Strafverfolgung gegen ihn wurde erst 1971 eingestellt, wodurch er wieder freier reisen konnte.

Die großen Filme in den 1970er und 1980er Jahren wie „Moses und Aron“ nach Arnold Schönberg, „Zu früh / zu spät“, „Klassenverhältnisse“ und „Der Tod des Empedokles“ werden die theoretische Aufwallung des Paares, ihren bissigen Lyrismus und ihren Wunsch, „das Volk“ dort zu finden, wo es fehlt, bestätigen. „Man muss die Menschen auf etwas zurückwerfen, das sie verdrängt oder vergessen haben, das sie durch diese Verdrängung zu Sklaven der Gegenwart und der Mode, der imperialistischen Globalität macht.“ Geduld und Gewalt, Kontemplation und Abriss, Zuhören und Stören – die große bipolare Musik von Straub-Huillet hält an und wird gedämpft fortgesetzt.

Der Nachruf erschien zuerst in „Libération“.

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