Was uns die Geschichte der Katastrophen über Corona lehrt
Auf Blaise Pascal geht die Entschuldigung zurück, er habe nur deshalb einen so langen Brief geschrieben, weil ihm für einen kurzen die Zeit gefehlt habe. Ähnlich verhält es sich mit den Corona-Sachbüchern dieser Tage, deren Zahl und Umfang wohl auch darauf zurückzuführen sind, dass sie einer sich ständig wandelnden Lage hinterherhetzen. Das Pascal-Problem teilt auch der Historiker Niall Ferguson.
Sein Buch „Doom“ hätte sich auch mit der Hälfte seiner 600 Seiten bescheiden können. So eilig wurde es auf den Markt geworfen, dass sein Autor im Vorwort zur deutschen Ausgabe noch rasch auf Vorbehalte gegenüber der wenige Monate zuvor erschienen US-Originalausgabe antwortet. „Rezensenten, die nicht verstanden, warum ,Doom’ mit einer Erörterung eines neuen Kalten Kriegs endet, haben übersehen, dass Pandemien und Kriege in der Geschichte oft aufeinander folgen und sogar Hand in Hand gehen können.“
[Niall Ferguson: Doom. Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft. Aus dem amerik. Englisch von Jürgen Neubauer. DVA, München 2021. 592 S., 28 €.]
Ein weiterer Grund für den in der Tat irritierenden (und enervierenden) Exkurs könnte darin liegen, dass Ferguson, ein anerkannter Experte für Finanz- und Wirtschaftsgeschichte, ein Buch geschrieben hat, dessen Thema nicht seines ist, weshalb er jede Gelegenheit nutzt, auf Felder auszuweichen, in denen er eher beheimatet ist.
Eine schlüssige Definition seines Untersuchungsgegenstands – eine Geschichte der Katastrophen – bleibt er schuldig. So kann er von Flugzeugabstürzen über Krankheiten bis hin zu Kriegen, Wirtschaftskrisen oder dem Untergang ganzer Imperien alles Mögliche darunter subsumieren. Die fehlende Systematik legitimiert er mit der These, Katastrophen hätten eine fraktale Struktur.
Ferguson möchte als Kassandra verstanden werden
Immer wieder kommt er auf Corona zurück. Pflichtschuldig weist er darauf hin, dass seine Daten, Quellen und Analysen wegen der Schnelligkeit der Ereignisse inzwischen zum Teil veraltet sein dürften (was zutrifft) und beteuert, keine Geschichte „unserer postmodernen Seuche“, wie er die Pandemie bezeichnet, schreiben zu wollen. Er tut es dann aber irgendwie doch.
Ferguson sah sich von der Krise zu ganz persönlichen Opfern genötigt. Für „Doom“ schob er, wie er nicht zu erwähnen vergisst, die Arbeit am zweiten Band seiner Kissinger-Biografie auf. Eitel weist er darauf hin, wie er schon im Januar 2020 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor einer Pandemie warnte, zitiert länglich Artikel, in denen er dazu aufrief, die Gefahr endlich ernst zu nehmen und vergisst nie die Datumsangaben. Ferguson möchte offenbar als Kassandra verstanden werden.
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Hiermit und nicht durch inhaltliche Expertise versichert er seine Glaubwürdigkeit, obwohl ein Wissenschaftler seines Ivy-League-Rangs auf derlei nicht angewiesen sein sollte. Ferguson denkt Katastrophen von den Gesellschaften her, die von ihnen betroffen sind. Sie mögen einen natürlichen Auslöser haben, aber das Ausmaß ihrer Verheerung ist abhängig von der Widerstandskraft der Systeme. Nicht in der Aktivität der Plattentektonik liegt also die Ursache eines tödlichen Erdbebens, sondern darin, dass Menschen in gefährlichem Gebiet siedeln, mit den falschen Materialien bauen oder Frühwarnsysteme versagen. Von dieser Betrachtung ausgehend, lässt sich aber mit Ferguson keine Risikopolitik gestalten, die Katastrophen durch Vorhersagen zu verhindern sucht, weil diese immer ungewisse Phänomene seien. Er rät daher nicht zu einer spezialisierten Vorsorge gegen bestimmte GAU, sondern dazu, „allgemein paranoid zu sein“.
Die Theorie kollabiert an der Untersuchung konkreter Fälle
Seine wichtigste These: Bei den meisten Katastrophen finden sich die entscheidenden Schwachpunkte nicht an der Spitze, sondern in der Mitte der Hierarchie. Er zieht die Netzwerktheorie heran, um zu zeigen, dass die Fehleranfälligkeit von Systemen vor allen bei jenen Institutionen oder Personen liegt, die Knotenpunkte eines Gefüges zu anderen Punkten des Netzwerks bilden, und so große Wirkung zeigen. Von hier aus lässt sich vor allem das Corona-Management bewerten. Wenn in erster Linie sozial mobile Personen für andere gefährlich sind, könnte ein kompletter Lockdown die falsche Maßnahme sein und sogar das Ausmaß an Leid vergrößern.
Fergusons kleine Theorie der Katastrophe kollabiert ihrerseits aber schon bei der Untersuchung anderer konkreter Fälle. Tschernobyl scheint eben doch, so schreibt er selbst, auf ein Versagen der Parteispitze zurückzuführen sein oder aber auf einen strukturellen Mangel der Widerstandskräfte des gesamten maroden Systems. Und im Falle des Challenger-Unfalls waren es, wie er nachweist, eben doch hochrangige Manager, die trotz Warnungen auf einem Raketenstart bei ungünstigen Bedingungen beharrten. Als hätte er das Interesse an seiner Analyse-Methode verloren, pocht Ferguson bald nur noch darauf, es sei falsch, einem Staatschef die volle Verantwortung für eine Katastrophe in die Schuhe zu schieben. Wenn die Mitte eines Gesellschaftssystems bereits gleich unter der Regierung beginnt, verliert diese Kategorie jede Bedeutung.
Der Schluss, an dem Ferguson den Kalten Krieg mit China voraussieht (und offen herbeisehnt), nährt den Verdacht, dass „Doom“ einen Etikettenschwindel betreibt. Das Thema bietet ihm nur den Anlass, sich über alles auszulassen, was seiner Ansicht nach schiefläuft.
Wenn er Trump gegen „die Medien“ in Schutz nimmt, sich darüber ereifert, dass alle noch vom Klima sprachen, als die Seuche schon umging, oder wenn er die Universitäten geißelt, denen mehr an politischer Korrektheit gelegen sei, als an der Weitergabe nutzbringender Erkenntnisse: Überall da erweist sich Ferguson eher als politischer Kommentator denn als kühler Historiker. Wer etwas über die Katastrophen der Weltgeschichte erfahren will, muss also eine Menge Geduld aufbringen.